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Wenig später brachten Maryam und ihre Mutter zwei Schalen mit Gemüse-shorwa und zwei Fladenbrote herein. »Tut mir Leid, dass wir Ihnen kein Fleisch anbieten können«, sagte Wahid. »Fleisch können sich in dieser Zeit nur die Taliban leisten.«

»Die Suppe sieht köstlich aus.« Und sie war auch köstlich. Ich wollte mit Wahid und den Jungen teilen, doch Wahid sagte, dass die Familie schon gegessen habe. Farid und ich krempelten die Ärmel hoch, tunkten unser Brot in die dampfende shorwa und langten zu.

Beim Essen fiel mir auf, dass Wahids Söhne immer wieder neugierige Blicke auf meine digitale Armbanduhr warfen. Alle drei hatten ungewaschene Gesichter und ganz kurz geschnittene braune Haare unter ihren Kappen. Der Jüngste flüsterte dem Bruder etwas ins Ohr, worauf dieser nickte, ohne meine Uhr aus den Augen zu lassen. Der Älteste — ich schätzte sein Alter auf zwölf — schaukelte vor und zurück; auch er konnte sich anscheinend nicht satt sehen und starrte auf mein Handgelenk. Als ich mir nach dem Essen mit dem Wasser, das Maryam aus einem Tonkrug schüttete, die Hände wusch, bat ich Wahid um die Erlaubnis, seinen Söhnen ein hadia, ein Geschenk, machen zu dürfen. Er sagte Nein, doch weil ich darauf bestand, willigte er zögernd ein. Ich löste die Uhr vom Handgelenk und reichte sie dem jüngsten der drei Jungen. »Tashiikor«, murmelte der.

»Darauf kann man ablesen, wie spät es an verschiedenen Orten der Welt ist«, erklärte ich. Die Jungen nickten höflich und begutachteten abwechselnd die Uhr. Doch bald war das Interesse an ihr verloren. Sie lag achtlos auf der Strohmatte.

»Das hättest du auch schon eher erzählen können«, sagte Farid später. Wir lagen Seite an Seite auf dem Strohlager, das Wahids Frau für uns gerichtet hatte.

»Was?«

»Den Grund für deine Reise nach Afghanistan.« Seine Stimme klang sehr viel weniger barsch, als ich es von ihr gewohnt war.

»Du hast mich nicht danach gefragt«, antwortete ich.

»Du hättest es mir sagen sollen.«

»Du hast nicht danach gefragt.«

Er wälzte sich auf die Seite, legte den Kopf auf seinen angewinkelten Arm und sah mich an. »Ich könnte viel leicht dabei helfen, den Jungen zu finden.«

»Vielen Dank, Farid.«

»Tut mir Leid, dass ich etwas Falsches unterstellt habe.«

Ich seufzte. »Schwamm drüber. So falsch war’s im Grunde gar nicht.«

Seine Hände sind auf dem Rücken zusammengebunden. Mit einem groben Strick, der ihm ins Fleisch der Handgelenke schneidet. Man hat ihm mit einem schwarzen Tuch die Augen verbunden. Er kniet auf der Straße, vor einem Rinnstein, in dem das Wasser steht. Der Kopf ist auf die Brust gesunken. Betend schaukelt er auf den Knien vor und zurück, scheuert sich dabei auf dem har ten Boden die Haut auf. Auf der Hose bilden sich Blutflecken. Es ist später Nachmittag, und sein langer Schatten schwingt auf dem Schotter hin und her. Er murmelt etwas mit angehaltenem Atem. Ich trete einen Schritt näher heran. Tausendmal, murmelt er. Für dich — tausendmal. Er schaukelt vor und zurück. Er hebt den Kopf. Ich sehe eine blasse Narbe auf der Oberlippe. Wir sind nicht allein. Zuerst sehe ich den Gewehrlauf. Dann den Mann dahinter.

Er ist groß gewachsen, trägt eine Weste mit Fischgrätmuster und einen schwarzen Turban. Er blickt auf den Mann am Boden hinunter, die Augen leer und ohne jeden Ausdruck. Er geht einen Schritt zurück und hebt den Lauf. Hält die Mündung an den Hinterkopf des knienden Mannes. Auf dem Metall der Waffe scheint kurz das fahle Licht der Sonne auf. Dann ein ohrenbetäubender Knall.

Ich sehe den Gewehrlauf nach oben schnellen. Hinter der aus der Mündung aufsteigenden Rauchwolke sehe ich das Gesicht. Der Mann mit dem schwarzen Turban bin ich. Ich erwachte mit einem Schrei, der mir in der Kehle stecken geblieben war.

Ich ging nach draußen, stand im matten Silberschein des Halbmondes und blickte hinauf in einen sprühenden Sternenhimmel. Zikaden zirpten, und durch die Bäume strich ein leichter Wind. Der Boden unter meinen bloßen Füßen war kühl, und plötzlich, zum ersten Mal seit unserer hinreise, hatte ich das Gefühl, wieder zu Hause zu sein. Nach all den Jahren stand ich wieder auf dem Boden meiner Vorfahren. Dies war der Boden, auf dem mein Urgroßvater seine dritte Frau geheiratet hatte, ein Jahr bevor er der verheerenden Cholera-Epidemie in Kabul zum Opfer fiel. Sie hatte ihm endlich einen Sohn zur Welt gebracht, was seinen ersten beiden Frauen nicht vergönnt gewesen war. Dies war der Boden, auf dem mein Großvater mit König Nadir Shah auf die Jagd gegangen war und einen Hirsch geschossen hatte. Meine Mutter lag hier begraben. Hier hatte ich um die Zuneigung meines Vaters geworben. Ich lehnte mich an die mit Lehm verputzte Hausmauer. Das Gefühl der Verbundenheit mit diesem Land, das plötzlich in mir aufwallte, überraschte mich selbst, war ich doch lange genug weg gewesen, um zu vergessen und vergessen zu werden. Für die Leute, die hinter der Wand schliefen, an der ich lehnte, kam ich von einem Kontinent, der ihnen so fern war wie eine andere Galaxis. Ich hatte geglaubt, dieses Land vergessen zu haben. Doch so war es nicht. Eingehüllt in bleichen Mondschein, spürte ich Afghanistan unter meinen Füßen vibrieren. Vielleicht hatte auch Afghanistan mich am Ende doch nicht ganz vergessen.

Ich schaute nach Westen, in Richtung der Berge, hinter denen Kabul lag. Es gab sie noch, diese Stadt, und das nicht nur als Erinnerung oder in der Schlagzeile einer AP-Meldung auf Seite 15 des San Francisco Chronicle. Irgendwo hinter diesen Bergen im Westen schlief die Stadt, in der wir, mein Halbbruder und ich, unsere Drachen hatten steigen lassen. Dort irgendwo hatte der Mann mit den verbundenen Augen, der Mann aus meinem Traum, einen sinnlosen Tod erleiden müssen. Dort, jenseits dieser Berge, hatte ich einst eine Entscheidung getroffen. Und jetzt, ein Vierteljahrhundert später, war ich von dieser Entscheidung wieder eingeholt worden und auf heimatlichen Boden zurückgekehrt.

Ich wollte gerade ins Haus zurückgehen, als ich Stimmen hörte. Eine dieser Stimmen erkannte ich als die von Wahid.

»…bleibt nichts für die Kinder.«

»Auch wenn wir Hunger haben, wir sind keine Barbaren. Er ist Gast. Was hatte ich tun sollen?«, sagte er in gereiztem Ton.

»…morgen etwas auftreiben.« Sie war den Tränen nahe, wie es schien. »Was soll ich unseren Kindern…«

Auf Zehenspitzen schlich ich davon. Ich ahnte jetzt, warum die Jungen so wenig Interesse an der Uhr gezeigt hatten. Sie hatten nicht auf die Uhr gestarrt, sondern auf meine Suppe.

Am frühen Morgen brachen wir auf und verabschiedeten uns. Ich bedankte mich bei Wahid für seine Gastlichkeit. Er deutete auf sein kleines Haus. »Es ist auch Ihr Haus«, sagte er. Seine drei Söhne standen in der Tür und beobachteten uns. Der Kleine trug die Uhr — sie baumelte an seinem dünnen Handgelenk.

Als wir abfuhren und ich im Rückspiegel meinen Gastgeber, von seinen Söhnen umringt, in der aufgewirbelten Staubwolke verschwinden sah, drängte sich mir der Gedanke auf, dass diese Jungen in einer anderen Welt ausreichend genährt und kräftig genug wären, um uns ein Stück weit zu begleiten.

Vor unserem Aufbruch, als ich sicher sein konnte, dass mich niemand sah, hatte ich — fast so wie vor sechsundzwanzig Jahren — ein Bündel zerknitterter Geldscheine unter eine der Matratzen gesteckt.

20

Farid hatte mich gewarnt. Das hatte er. Vergebens, wie sich herausstellte.

Wir fuhren über die holprige Straße, die sich von Jalalabad nach Kabul schlängelt. Als ich das letzte Mal auf dieser Straße, allerdings in Gegenrichtung, unterwegs gewesen war, hatte ich auf einem Lastwagen unter einer Plane gekauert. Fast wäre Baba damals von diesem bekifften, singenden Roussi-Soldaten erschossen worden — Baba hatte mich in der Nacht fast zur Raserei gebracht, mir schreckliche Angst eingejagt und mich am Ende dann doch sehr stolz gemacht. Der Treck von Kabul nach Jalalabad, diese halsbrecherische Fahrt durch scharfe Kurven zwischen Felsen bergab, war jetzt nur noch Erinnerung, ein Überbleibsel aus zwei Kriegen. Vor zwanzig Jahren hatte ich Szenen des ersten Krieges mit eigenen Augen gesehen. Düstere Mahnmale säumten den Straßenrand: ausgebrannte alte sowjetische Panzer, umgekippte, durchgerostete Truppentransporter, ein zermalmter russischer Jeep, abgestürzt aus großer Höhe. Den zweiten Krieg hatte ich am Fernsehbildschirm miterlebt. Und jetzt sah ich das alles mit den Augen Farids.