Farid war in seinem Element. Scheinbar mühelos wich er den Schlaglöchern aus, die sich mitten auf der Fahrbahn aneinander reihten. Seit unserer nächtlichen Einkehr in Wahids Haus war er sehr viel gesprächiger geworden. Er hatte mich auf dem Beifahrersitz Platz nehmen lassen und sah mich beim Sprechen immer wieder an. Ein- oder zweimal zeigte er sogar ein Lächeln. Während er mit seiner verstümmelten Hand am Lenkrad kurbelte, deutete er auf kleine aus Lehmhütten zusammengewürfelte Dörfer entlang des Wegs, wo vor Jahren Be kannte von ihm gewohnt hatten. Die meisten von ihnen, sagte er, seien tot oder in Flüchtlingslagern in Pakistan. »Und manchmal sind die Toten besser dran«, sagte er.
Er zeigte auf eine Ortschaft, von der kaum mehr als ein paar rußgeschwärzte, bröckelnde Mauern übrig geblieben waren. In einem Winkel lag schlafend ein Hund. »Da hat einmal ein Freund gewohnt«, sagte Farid. »Er hat Fahrräder repariert. Und gut tabla spielen konnte er. Die Taliban haben ihn und alle Angehörigen umgebracht und das Dorf niedergebrannt.«
Wir passierten die Ruinen; der Hund rührte sich nicht.
Früher hatte die Fahrt von Jalalabad nach Kabul rund zwei Stunden gedauert, vielleicht ein bisschen länger. Jetzt brauchten wir sechs Stunden. Und als wir endlich ankamen — wir hatten gerade den Mahipar-Damm hinter uns gelassen —, meinte Farid, mich vorwarnen zu müssen.
»Kabul hat sich sehr verändert«, sagte er.
»So hört man.«
Farid warf mir einen Blick zu und erwiderte, dass etwas zu hören und zu sehen nicht dasselbe sei. Und er hatte Recht. Denn als sich die Stadt vor uns ausbreitete, schien es mir, nein, ich war mir sicher, dass er sich verfahren hatte. Er muss meine verdutzte Miene registriert haben — als Chauffeur war ihm dieser Ausdruck auf den Gesichtern derer, die Kabul lange Zeit nicht gesehen hatten, gewiss vertraut.
Er klopfte mir auf die Schulter. »Willkommen daheim«, grüßte er verdrossen.
Trümmer und Bettler. Wohin ich auch sah, das war es, was sich mir zeigte. Natürlich hatte es auch früher Bettler gegeben — eigens für sie hatte Baba immer ein paar Geldscheine in der Tasche gehabt; ich habe nie gesehen, dass er einen von ihnen hätte leer ausgehen lassen. Jetzt aber hockten sie in zerfetztem Sackleinen an jeder Straßenecke und streckten verdreckte Hände nach Almosen aus. Die meisten waren noch Kinder, dünn und mit verhärmten Gesichtern, manche kaum älter als fünf oder sechs. Einige saßen auf dem Schoß der verschleierten Mutter am Rand geschäftiger Straßenecken und riefen »Bakschisch!«. Und da war noch etwas, was mir erst nach einer Weile auffieclass="underline" Kaum eines von ihnen war in Begleitung eines erwachsenen Mannes. Väter gab es nach den Kriegen nur noch wenige in Afghanistan.
Wir fuhren auf der Jadeh Maywand, einer der ehemals verkehrsreichsten Straßen, in westlicher Richtung dem Stadtteil Karteh-Seh entgegen. Im Norden lag das knochentrockene Bett des Kabul-Flusses. Auf den Hügeln im Süden ragte die alte, verfallene Stadtmauer auf. Und gleich östlich davon thronte die Festung Bala Hissar — jene uralte Burg, die 1992 von Warlord Dostum okkupiert worden war — hoch oben auf einer Kuppe der Shirdarwaza-Kette, ebenjener Berge, von denen aus Gulbuddins Truppen zwischen 199z und 1996 die Stadt mit Raketen beschossen und einen Großteil der Schäden angerichtet hatten, die ich nun vor mir sah. Die Shirdarwaza-Kette erstreckt sich bis weit nach Westen. Ich erinnerte mich an die Böller der Topeh chasht, der »Mittagskanone«, die von diesen Bergwänden widerhallten. Die Kanone donnerte jeden Tag Schlag zwölf und außerdem, um während des Ramadan bei Einbruch der Nacht das Ende der Fastenstunden anzuzeigen. Sie war damals überall in der Stadt zu hören.
»Auf der Jadeh Maywand war ich früher oft als Kind«, brummte ich vor mich hin. »Es gab jede Menge Geschäfte und Hotels. Neonreklame und Restaurants. In einem kleinen Laden neben dem alten Polizeipräsidium habe ich meine Drachen gekauft, bei einem alten Mann, der Saifo hieß.«
»Das Polizeipräsidium steht noch«, sagte Farid. »An Polizei fehlt es hier wahrhaftig nicht. Aber Drachen oder Läden, in denen man Drachen kaufen kann, wirst du hier und in ganz Kabul vergeblich suchen. Damit ist es vorbei.«
Die Jadeh Maywand hatte sich in eine breite Sandpiste verwandelt. Die Gebäude, die noch standen, drohten in sich zusammenzusacken. Dächer waren eingestürzt, und die Mauern steckten voller Granatsplitter. Ganze Häuserreihen lagen in Trümmern. Aus einem Schutthaufen sah ich ein von Kugeln durchsiebtes Reklameschild ragen: DRINK COCA CO… konnte ich noch lesen. Ich sah Kinder in den Ruinen fensterloser Häuser zwischen Mauerresten spielen. Fahrradfahrer und Maultiergespanne kurvten im Zickzack um Trümmer, Kinder und streunende Hunde. Ein Schleier aus Staub hing über der Stadt; jenseits des Flusses stieg eine Rauchsäule in den Himmel.
»Wo sind die Bäume?«, fragte ich.
»Die hat man im Winter verfeuert«, antwortete Farid. »Viele sind auch von den Shorawi gefällt worden.«
»Warum?«
»Weil sich oft Scharfschützen dahinter versteckt haben.«
Ich wurde sehr traurig. Nach Kabul zurückzukehren war wie die Begegnung mit einem alten Freund, dem das Leben offenbar schwer zugesetzt hatte und der nun völlig verarmt und obdachlos war.
»Mein Vater hat in Shar-e-Kohna, der alten Stadt im Süden von hier, ein Waisenhaus gebaut«, sagte ich.
»Ich erinnere mich«, antwortete Farid. »Vor ein paar Jahren ist es zerstört worden.«
»Halt doch bitte mal an«, sagte ich. »Ich möchte mir die Beine vertreten und mich ein bisschen umsehen.«
Farid parkte den Wagen in einer kleinen Seitenstraße gleich neben einem baufälligen, verlassenen Haus ohne Tür. »Das war einmal eine Apotheke«, murmelte Farid beim Aussteigen. Wir gingen zur Jadeh Maywand zurück und wandten uns nach rechts, Richtung Westen. »Was ist das für ein Gestank?«, fragte ich. Irgendetwas ließ meine Augen tränen.
»Diesel«, gab Farid zur Antwort.
»Diesel?«
»Auf die Kraftwerke der Stadt ist kein Verlass. Es kommt immer wieder zu Stromausfällen. Darum behelfen sich die Leute mit eigenen Generatoren, die mit Die sel angetrieben werden.«
»Diesel. Weißt du noch, wonach es früher in dieser Gegend gerochen hat?«
Farid schmunzelte. »Nach Kebab.«
»Lamm-Kebab.«
»Lamm.« Farid ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. »So was bekommen in Kabul heutzutage nur die Taliban zu essen.« Er zupfte an meinem Ärmel. »Wenn man vom Teufel spricht…«
Da rollte ein Fahrzeug auf uns zu. »Bart-Patrouille«, flüsterte Farid.
Es war das erste Mal, dass mir Taliban zu Gesicht kamen. Ich hatte sie bislang nur im Fernsehen, im Internet, auf den Titelseiten von Zeitschriften oder Tageszeitungen gesehen. Jetzt aber stand ich ihnen kaum zwanzig Schritte gegenüber. Und ich wollte nicht wahr haben, dass es nackte Angst war, die da plötzlich in mir aufstieg, mir durch Mark und Bein ging und das Herz schneller schlagen ließ. Da waren sie. In all ihrer Herrlichkeit.
Der rote Toyota-Pick-up fuhr langsam an uns vorbei. Im Führerhaus hockte eine Hand voll ernst dreinblickender junger Männer mit geschulterten Kalaschnikows. Sie trugen allesamt Bärte und schwarze Turbane. Feiner von ihnen, ein dunkelhäutiger Mann Anfang zwanzig mit dichten zusammengekniffenen Augenbrauen, ließ eine Peitsche in der Hand rotieren und rhythmisch auf das Seitenblech des Wagens klatschen. Sein irrer Blick blieb plötzlich an mir hängen. Ich hatte mich in meinem ganzen Leben nicht so nackt gefühlt. Dann spie der Talib tabakbraunen Speichel aus und schaute zur Seite. Ich konnte aufatmen. Der Wagen rollte die Jadeh Maywand entlang und zog eine lange Staubwolke hinter sich her.