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»Bist du nicht ganz bei Trost?«, zischte Farid.

»Was?«

»Gaff diese Leute um Himmels willen nicht so an! Verstehst du mich? Niemals!«

»Es war nicht meine Absicht«, entgegnete ich.

»Ihr Freund hat Recht, Aga. Einen tollwütigen Hund zu ärgern wäre weniger riskant«, tönte es plötzlich von hinten. Da saß ein alter barfüßiger Bettler auf den Stufen eines zerschossenen Hauseingangs. Er trug einen zerfetzten chapan und einen Turban, starrend vor Dreck. Das linke Lid hing schlaff über einer leeren Augenhöhle. Mit gichtiger Hand zeigte er in die Richtung, die der rote Pick-up eingeschlagen hatte. »Die machen hier ihre Runde. Sehen sich um und warten darauf, provoziert zu werden. Früher oder später findet sich immer einer, den sie sich vorknöpfen können. Dann haben die Hunde ihren Spaß. Endlich keine Langeweile mehr, und jeder ruft: Allah-u-akbar! Und wenn ihnen ausnahmsweise einmal niemand querkommt, na, dann schlagen sie einfach wild um sich. Ist doch so, oder?«

»Merk dir das: Ist ein Talib in der Nähe, senk den Blick«, sagte Farid.

»Ihr Freund ist ein guter Ratgeber«, schmeichelte der alte Bettler, der plötzlich rasselnd zu husten anfing und in ein schmieriges Taschentuch spuckte. »Verzeihung, aber hätten Sie vielleicht ein paar Afghani für mich übrig?«, röchelte er.

»Bas. Lass uns gehen«, sagte Farid und zog mich am Arm.

Ich steckte dem Alten 100000 Afghani zu, umgerechnet ungefähr drei Dollar. Als er sich vorbeugte, um das Geld entgegenzunehmen, stieg mir der Gestank saurer Milch und ungewaschener Füße in die Nase, worauf sich mir der Magen umzudrehen drohte. Eilig steckte er das Geld weg und sah sich mit dem einen verbliebenen Auge argwöhnisch um. »Tausend Dank für Ihre Güte, Aga Sahib.«

»Wissen Sie, wo das Waisenhaus in Karteh-Seh ist?«, fragte ich.

»Westlich vom Darulaman-Boulevard. Es ist ganz leicht zu finden«, antwortete er. »Die Kinder sind von hier nach Karteh-Seh umquartiert worden, als das alte Waisenhaus von Raketen getroffen wurde. Mit anderen Worten, man hat sie aus dem Löwenkäfig befreit und dann zu den Tigern geworfen.«

»Danke für die Auskunft, Aga«, sagte ich und wandte mich ab.

»Das war wohl für Sie das erste Mal, nay?«

»Wie bitte?«

»Dass Sie einen Talib gesehen haben.«

Ich blieb ihm die Antwort schuldig. Der Alte nickte und zeigte grinsend ein paar faule, gelbe Zähne. »Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie sie in Kabul ein gerollt sind. Was für ein freudiger Tag!«, sagte er. »Endlich Frieden! Ha ha, von wegen. Aber wie schon der Dichter sagte: Die Liebe schien grenzenlos, und dann kam der Streit.«

Ich musste schmunzeln. »Den ghazal kenne ich auch. Er ist von Hafis.«

»Allerdings«, antwortete der Alte. »Ich muss es wissen. Ich war Dozent für Literatur an der Universität.«

»Tatsächlich?«

Der Alte steckte die Fäuste unter die Arme. Und hustete. »Von 1958 bis 1996. Mein Fachgebiet war die Literatur von Hafis, Khayyam, Rumi, Beydel, Jami, Saadi. Ich war sogar einmal Gastdozent in Teheran, 1971 war das. Da habe ich eine Vorlesung über den Mystiker Beydel gehalten. Ich weiß noch, alle Zuhörer sind am Ende aufgestanden und haben geklatscht. Ha!« Er schüttelte den Kopf. »Aber Sie haben ja diese jungen Männer in dem Wagen gesehen. Was könnte denen schon am Sufismus gelegen sein?«

»Meine Mutter hat auch an der Universität gelehrt«, sagte ich.

»Und wie ist ihr Name?«

»Sofia Akrami.«

So getrübt das eine Auge auch war, es zeigte sich ein Leuchten darin. »Das Wüstengras lebt fort, mag auch die Frühjahrsblume blühen und verwelken. Ach, wie schön, so erhaben und elegisch.«

»Sie kannten meine Mutter?«, fragte ich und ging vor dem alten Mann in die Hocke.

»Nicht besonders gut, aber, ja, ich habe sie gekannt«, antwortete er. »Manchmal, wenn sich eine Gelegenheit bot, haben wir uns unterhalten. Das letzte Mal an einem Regentag, kurz vor den Abschlussprüfungen, da haben wir ein herrliches Stück Mandelkuchen miteinander geteilt. Mandelkuchen und dazu heißen Tee mit Honig. Sie war damals hochschwanger und umso schöner. Ich werde nie vergessen, was sie mir an diesem Tag anvertraut hat.«

»Was denn? Bitte, sagen Sie es mir.« Baba hatte Mutter immer nur in allgemeinen Worten beschrieben, die wenig besagten, in Sätzen wie »sie war eine große Frau«. Ich aber war stets auf Einzelheiten aus gewesen; mich interessierte viel mehr, in welcher Tönung ihr Haar im Sonnenlicht schimmerte, welche Eiskrem sie bevorzugte, was für Lieder sie vor sich hin summte oder ob sie womöglich an den Fingernägeln kaute. Baba hatte seine Erinnerungen an sie mit ins Grab genommen. Dass er sich so zugeknöpft gegeben hatte, war vielleicht dem schlechten Gewissen geschuldet, der Reue über sein Verhalten so kurz nach ihrem Tod. Oder vielleicht hatte ihn der Verlust allzu sehr geschmerzt, als dass es ihm möglich gewesen wäre, von ihr zu sprechen. Vielleicht war beides Grund für seine Verschlossenheit.

»Sie sagte: ›Ich habe Angst.‹ Ich fragte, warum, und sie antwortete: ›Weil ich so glücklich bin, Doktor Rasul. Schieres Glück ist beängstigend.‹ — ›Wieso denn das?‹, wollte ich wissen, und sie sagte: ›Sie lassen einen nur dann so glücklich sein, wenn sie etwas von dir wollen.‹ — ›Ach was‹, sagte ich, ›das ist doch dummes Zeug.‹«

Farid nahm mich beim Arm. »Wir sollten jetzt gehen, Amir«, flüsterte er mir zu. Ich riss mich von ihm los. »Was sonst noch? Hat sie noch etwas gesagt?«

In der Miene des Alten zeigte sich Bedauern. »Ich wünschte mich erinnern zu können, schon allein Ihnen zuliebe. Aber alles andere habe ich vergessen. Ihre Mutter ist schon lange tot, und meine Erinnerungen sind so verschüttet wie die Räume in dieser Stadt. Tut mir Leid.«

»Aber es wird Ihnen doch noch irgendetwas einfallen, irgendeine Kleinigkeit.«

Der Alte lächelte. »Ich will versuchen, mich zu erinnern. Versprochen. Kommen Sie zurück, suchen Sie mich.«

»Danke«, sagte ich. »Vielen herzlichen Dank.« Es war mir ernst. Jetzt wusste ich, dass meine Mutter Mandelkuchen und heißen Tee mit Honig gemocht hatte, dass sie das Wort »schier« benutzte und sich wegen ihres Glücks Sorgen machte. Ich hatte von diesem alten Bettler auf der Straße mehr über meine Mutter erfahren als von Baba.

Auf dem Weg zurück zum Wagen mochte weder Farid noch ich kommentieren, was den meisten Nicht-Afghanen als ein allzu unwahrscheinlicher Zufall vorkommen würde, dass nämlich ein Bettler tatsächlich meine Mutter gekannt hatte. Doch wir beide wussten, dass in Afghanistan und besonders in Kabul solche Absonderlichkeiten durchaus an der Tagesordnung waren. Baba pflegte zu sagen: »Steck zwei x-beliebige Afghanen für zehn Minuten in ein Zimmer, und sie werden bald herausfinden, über welche Linien sie miteinander verwandt sind.«

Wir ließen den Alten hinter uns zurück. Ich war entschlossen, auf sein Angebot einzugehen und zurückzukommen, um nachzufragen, ob ihm weitere Geschichten über meine Mutter eingefallen seien. Doch ich sah ihn nie wieder.

Wir fanden das neue Waisenhaus im Norden von Karteh-Seh, am Ufer des ausgetrockneten Kabul-Flusses. Es war ein flaches kasernenartiges Gebäude mit zerschossenen Wänden und zugenagelten Fenstern. Farid hatte mir auf dem Weg hierher erklärt, dass von allen Vierteln in Kabul keines so sehr vom Krieg in Mitleidenschaft gezogen worden war wie Karteh-Seh. Davon konnte ich mich nun, da wir aus dem Wagen stiegen, mit eigenen Augen überzeugen. Aufgesprengte Straßen säumten die bizarren Mauerreste ausgebombter Häuser. Wir kamen an dem verrosteten Gerippe eines umgestürzten Autos vorbei, an einem halb im Schutt versunkenen Fernsehapparat ohne Bildschirm, an einer Wand, auf die mit schwarzer Farbe die Worte Zenda bad Taliban! gesprüht waren: Lang leben die Taliban!