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Ein klein gewachsener, dünner Mann mit schütterem Haar und struppigem grauem Bart öffnete die Tür. Er trug ein abgewetztes Tweedjackett, eine einfache Strickmütze, und die Brille, die auf die Nasenspitze heruntergerutscht war, hatte ein gesprungenes Glas. Die winzigen Augen kugelten hin und her wie schwarze Erbsen, den Blick mal auf mich, mal auf Farid gerichtet. »Salaam alaykum«, grüßte er.

»Salaam alaykum«, sagte ich und zeigte ihm das Polaroidfoto. »Wir suchen diesen Jungen.«

Er warf einen flüchtigen Blick auf das Bild. »Kenn ich nicht, tut mir Leid.«

»Sie haben ja gar nicht richtig hingesehen, mein Freund«, sagte Farid. »Schauen Sie sich das Bild doch mal genauer an.«

»Lotfan«, fügte ich hinzu. Bitte.

Der Mann nahm das Foto in die Hand. Studierte es. Und reichte es mir zurück. »Nay, tut mir Leid. Ich kenne jedes einzelne Kind in unserm Haus, aber das habe ich noch nie gesehen. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden, ich habe noch zu tun.« Er machte die Tür zu und schloss ab.

Ich klopfte mit den Knöcheln an. »Aga! Aga, bitte machen Sie auf. Wir wollen dem Jungen doch nicht schaden.«

»Wie gesagt, er ist nicht hier«, tönte es jenseits der Tür. »Gehen Sie jetzt bitte.«

Farid trat einen Schritt näher und legte seine Stirn an das Türblatt. »Freund, wir gehören nicht zu den Taliban«, sagte er leise und vorsichtig. »Der Mann, der mit mir gekommen ist, will den Jungen in Sicherheit bringen.«

»Ich komme aus Peshawar«, sagte ich. »Fin guter Freund von mir kennt ein amerikanisches Paar, das dort ein Heim für Kinder unterhält.« Ich spürte, dass der Mann hinter der Tür ausharrte und lauschte, dass er zögerte und zwischen Argwohn und Hoffnung schwankte. »Hören Sie, ich kannte Suhrabs Vater«, fuhr ich fort. »Sein Name war Hassan. Die Mutter hieß Farzana. Er nannte seine Großmutter Sasa. Er kann lesen und schreiben. Und gut mit der Schleuder umgehen. Für diesen Jungen gibt es Hoffnung, Aga, einen Ausweg. Bitte öffnen Sie die Tür.«

Auf der anderen Seite regte sich nichts.

»Ich bin sein Halbonkel«, sagte ich.

Es blieb noch eine Weile still. Dann klapperte ein Schlüssel im Schloss. Die Tür ging auf, und im Spalt zeigte sich das schmale Gesicht des Mannes. Sein Blick wanderte zwischen Farid und mir hin und her. »In einer Hinsicht irren Sie.«

»Nämlich?«

»Er kann fantastisch gut mit der Schleuder umgehen.«

Ich lächelte.

»Er hat dieses Ding immer bei sich, trägt es im Hosenbund, wohin er auch geht.«

Er ließ uns schließlich eintreten und stellte sich mit dem Namen Zaman vor, als Leiter des Waisenhauses. »Gehen wir in mein Büro«, sagte er.

Wir folgten ihm durch düstere, schäbige Gänge, in denen ärmlich gekleidete Kinder auf nackten Füßen herumsprangen. Wir kamen an Räumen vorbei, wo in Ermangelung eines festen Bodens Filzteppiche ausgelegt und die Fenster statt mit Glasscheiben mit Plastikfolien verschlossen waren. Diese Räume standen voller Betten aus Metallgestellen, die meisten ohne Matratze.

»Wie viele Waisen wohnen hier?«, fragte Farid.

»Mehr, als dass wir für alle Platz hätten. Ungefähr zweihundertfünfzig«, antwortete Zaman über die Schulter hinweg. »Aber sie sind nicht etwa alle yateem. Viele haben nur ihre Väter im Krieg verloren. Die Mütter können aber nicht mehr für sie aufkommen, weil die Taliban verbieten, dass sie arbeiten. Also bringen sie ihre Kinder zu uns.« Er deutete mit ausgestreckter Hand ringsum und fügte betreten hinzu: »Hier ist es immerhin besser als auf der Straße, zumindest ein bisschen besser. Allerdings ist das Haus nicht gebaut worden, um darin zu wohnen; es war das Lager einer Teppichfabrik. Einen Warmwasserbereiter oder so etwas gibt es hier nicht, außerdem ist der Brunnen ausgetrocknet.« Er senkte die Stimme. »Damit ein neuer Brunnen gegraben werden kann, habe ich die Taliban um Geld gebeten, immer wieder, aber sie haben nur ihre Gebetsketten durch die Finger gleiten lassen und gemeint, dass es kein Geld gebe. Kein Geld.« Er kicherte. »Sie haben jede Menge Heroin, aber für einen Brunnen soll angeblich das Geld fehlen.«

Er zeigte auf eine an der Wand entlang aufgestellte Reihe von Betten. »Wir haben weder genug Betten noch ausreichend Matratzen. Schlimmer noch, es fehlt sogar an Decken.« Er machte uns auf ein kleines Mädchen aufmerksam, das mit zwei anderen Kindern Seilhüpfen spielte. »Sehen Sie dieses Mädchen? In diesem Winter mussten sich unsere Kinder die wenigen Decken teilen. Ihr Bruder ist gestorben, erfroren.« Er ging weiter. »Als ich das letzte Mal nach den Vorräten gesehen habe, gab es nur noch für knapp einen Monat Reis. Wenn der aufgebraucht ist, werden die Kinder ausschließlich Brot und Tee zu essen bekommen, morgens wie abends.« Mir fiel auf, dass an ein Mittagessen gar nicht zu denken war.

Er blieb stehen, wandte sich mir zu. »Das Haus bietet nur wenig Schutz; wir haben kaum Lebensmittel, viel zu wenig Kleider und kein sauberes Wasser. Nur an Kindern, die ihre Kindheit verloren haben, mangelt es nicht. Und das Tragische ist, dass ausgerechnet sie noch Glück hatten. Unsere Kapazitäten sind erschöpft. Tagtäglich muss ich Mütter abweisen, die uns ihre Kinder bringen.« Er trat einen Schritt auf mich zu. »Sie sagen, dass es für Suhrab Hoffnung gibt? Das würde ich mir sehr wünschen, Aga. Aber… ich fürchte, Sie kommen zu spät.«

»Was soll das heißen?«

Zaman wich meinem Blick aus. »Folgen Sie mir.«

Vier kahle, rissige Wände, eine Matte auf dem Boden, ein Tisch und zwei Klappstühle: Das war das Büro des Heimleiters. Zaman nahm auf dem einen, ich auf dem anderen Stuhl Platz. Aus einem Loch in der Sockelleiste steckte eine graue Ratte den Kopf hervor und flitzte dann quer durch den Raum. Ich zuckte zurück, als sie an meinen Schuhen schnupperte. Dann interessierte sie sich für die von Zaman und huschte schließlich durch die Tür nach draußen.

»Sie fürchten, ich sei zu spät gekommen. Was meinen Sie damit?«, fragte ich.

»Darf ich Ihnen eine Tasse chai anbieten? Ich könnte eine Kanne aufgießen.«

»Nay, danke. Mir wär’s lieber, wir kämen gleich zur Sache.«

Zaman lehnte sich zurück und verschränkte die Arme auf der Brust. »Was ich zu sagen habe, wird Ihnen nicht gefallen, ganz abgesehen davon, dass die Sache auch sehr gefährlich werden könnte.«

»Für wen?«

»Für Sie. Mich. Und natürlich auch für Suhrab, wenn es denn nicht schon zu spät für ihn ist.«

»Ich muss Bescheid wissen«, sagte ich.

Er nickte. »Verstehe. Aber zuerst möchte ich Ihnen eine Frage stellen: Wie wichtig ist es für Sie, Ihren Neffen zu finden?«

Ich dachte zurück an die Schlägereien auf der Straße, bei denen Hassan immer für mich eingestanden hatte und er es oft gegen zwei, manchmal sogar gegen drei Jungen aufnehmen musste. Ich hatte zugesehen, wohl auch eingreifen wollen, war aber immer wieder zurückgeschreckt, zurückgehalten von irgendetwas.

Ich warf einen Blick in den Flur und sah eine Gruppe von Kindern im Kreis tanzen. Ein kleines Mädchen, dem das linke Bein unterhalb des Knies amputiert worden war, hockte auf einem verschlissenen Teppich, sah lä chelnd zu und klatschte im Takt. Wie ich sah, beobachtete auch Farid die Kinder; seine verkrüppelte Hand hing seitlich herab. Ich erinnerte mich an Wahids Jungen und… mir war plötzlich klar: Ich würde Afghanistan nicht verlassen, ohne Suhrab gefunden zu haben. »Sagen Sie mir, wo er ist«, sagte ich.