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Farid steuerte den Landcruiser in die Hinfahrt eines großen Hauses im Wazir-Akbar-Khan-Viertel. Er parkte im Schatten der Weiden, die mit ihren Ästen über die Mauern des Anwesens an der Sarak-e-Mehmana, der Straße der Gäste, hinausreichten. Wir blieben noch eine Weile im Wagen sitzen, lauschten dem Klick-klick des abkühlenden Motors und schwiegen. Farid rutschte auf seinem Platz hin und her und spielte mit den Schlüsseln, die noch im Zündschloss steckten. Ich sah ihm an, dass er mir etwas sagen wollte.

»Vielleicht sollte ich lieber im Auto warten«, sagte er schließlich, ohne mich anzuschauen und in einem Ton, der ein wenig nach Entschuldigung klang. »Das ist deine Angelegenheit. Ich…«

Ich tätschelte seinen Arm. »Du hast schon sehr viel für mich getan, viel mehr, als ich erwartet habe. Du brauchst nicht mitzugehen.« In Wahrheit wäre mir seine Begleitung sehr lieb gewesen. Oder die von Baba. Trotz der Geschichten, die ich jüngst über ihn erfahren hatte, hätte ich ihn liebend gern an meiner Seite gehabt. Baba wäre einfach zur Tür hineingegangen, hätte verlangt, dem leitenden Beamten vorgestellt zu werden, und jedem, der sich ihm in den Weg gestellt hätte, auf den Bart gepinkelt. Aber Baba war längst tot, begraben auf dem für Afghanen reservierten Teil des kleinen Friedhofs in Hayward. Erst im vergangenen Monat hatten Soraya und ich ihm einen Strauß aus Margeriten und Freesien an den Grabstein gelegt. Ich war auf mich allein gestellt.

Ich stieg aus dem Auto und ging auf die große Holzpforte des Hauses zu. Ich drückte den Klingelknopf, hörte aber kein Klingeln — es gab immer noch keinen Strom. Ich musste also anklopfen. Einen Moment später hörte ich Stimmen, die einen kurzen Wortwechsel führten, dann machten mir zwei Männer, mit Kalaschnikows bewaffnet, die Tür auf.

Ich warf einen Blick zurück auf Farid, der hinterm Steuer saß, und formulierte mit den Lippen: Ich bin bald wieder da, war mir dessen aber beileibe nicht sicher.

Die Männer durchsuchten mich von Kopf bis Fuß, tasteten meine Hose ab und griffen mir zwischen die Beine. Der eine sagte irgendetwas auf Paschto, worauf beide kicherten. Sie ließen mich eintreten und führten mich durch einen kleinen Innenhof, über ein gepflegtes Rasenstück, vorbei an Geranien und kurz gehaltenen Büschen, die die Außenmauer säumten. Am anderen Ende des Hofes stand eine alte Wasserpumpe, die mit der Hand zu betreiben war. Ich erinnerte mich an den Brunnen vor Kaka Homayouns Haus in Jalalabad — die Zwillinge Fazila und Karima und ich hatten Dutzende von Kieselsteinen in den Schacht geworfen und auf das Plink in der Tiefe gelauscht.

Wir stiegen über ein paar Stufen und betraten ein großes spärlich geschmücktes Haus. An einer Wand in der Eingangshalle hing eine riesige afghanische Fahne. Die Männer führten mich über eine Treppe nach oben in einen Raum mit zwei minzgrünen Sofas und einem großformatigen Fernseher. An einer der Wände hing — festgenagelt — ein Gebetsteppich, auf dem eine leicht verzerrte Ansicht von Mekka abgebildet war. Der ältere der beiden Wächter forderte mich mit einem Wink seiner Waffe auf, auf dem Sofa Platz zu nehmen. Ich setzte mich. Die beiden verließen das Zimmer.

Ich schlug die Beine übereinander. Stellte sie wieder nebeneinander und legte die schweißnassen Hände auf die Knie. Ob ich einen nervösen Eindruck machte? Ich faltete die Hände, war aber bald auch mit dieser Haltung nicht mehr einverstanden und verschränkte die Arme auf der Brust. Ich spürte das Blut in den Schläfen rauschen, fühlte mich ganz und gar einsam und verlassen. Gedanken schwirrten mir durch den Kopf, obwohl ich eigentlich an nichts denken wollte, zumal ich ahnte, dass ich mich in eine heillos verrückte Situation manövriert hatte. Tausende von Kilometern von meiner Frau entfernt, befand ich mich in einem Zimmer, das wie eine Arrestzelle anmutete, und wartete auf einen Mann, der kurz zuvor vor meinen eigenen Augen zwei Menschen getötet hatte. Wahnsinn. Schlimmer noch, es war unverantwortlich, riskierte ich doch, Soraya mit nur sechsunddreißig Jahren zur Witwe zu machen. Das bist nicht du, Amir, sagte eine Stimme in mir. Du hast doch im Grunde überhaupt keinen Mumm, was an sich nicht so schlimm ist, zumindest hast du dir in dieser Hinsicht nie etwas vorgemacht. Feige zu sein ist nicht weiter tragisch; viel wichtiger ist es, Vernunft walten zu lassen. Wenn aber ein Feigling vergisst, wer er ist… dann gnade ihm Gott.

Neben dem Sofa stand ein kleiner Beistelltisch mit xförmigem Untergestell und walnussgroßen Messingkugeln, angeordnet als Ring, in dem sich die Metallbeine in der Mitte kreuzten. Einen solchen Tisch hatte ich schon einmal gesehen. Wo? Und dann fiel es mir ein: in der überfüllten Teestube in Peshawar, auf die ich damals, während meines nächtlichen Spaziergangs, zufällig gestoßen war. Auf dem Tisch stand eine Schale voll roter Weintrauben. Ich pflückte eine davon ab und warf sie mir in hohem Bogen in den Mund. Mit irgendetwas musste ich mich beschäftigen, um die Stimme in meinem Kopf zum Schweigen zu bringen. Die Traube war süß. Ich gönnte mir eine weitere — und konnte natürlich nicht ahnen, dass dies für lange Zeit mein letzter Bissen sein sollte.

Die Tür ging auf, und die beiden bewaffneten Männer kehrten zurück. Sie flankierten den groß gewachsenen Talib in Weiß, der immer noch die dunkle Lennon-Brille trug und aussah wie ein New-Age-Guru, nur mit muskulösen Schultern.

Er nahm mir gegenüber Platz und legte die Hände auf die Armlehnen. Für eine Weile saß er schweigend da, musterte mich und klopfte mit einer Hand aufs Polster. Mit der anderen spielte er mit den türkisblauen Perlen seiner Gebetskette. Er hatte eine schwarze Weste über das weiße Hemd gezogen und trug, wie mir auffiel, eine goldene Uhr am Handgelenk. Am linken Hemdsärmel war ein getrockneter Blutfleck. Es irritierte, ja, faszinierte mich, dass er sich nach der Hinrichtung nicht umgezogen hatte.

Manchmal hob er die freie Hand und fuhr mit seinen kräftigen Fingern durch die Luft, als streichelte er ein unsichtbares Maskottchen. Unter dem zurückrutschenden Ärmel traten Male auf dem Unterarm zum Vorschein, wie ich sie sonst nur bei Obdachlosen in den heruntergekommenen Seitenstraßen von San Francisco gesehen hatte.

Seine Haut war viel heller als die der beiden Wachen, fast bleich, und unterhalb des schwarzen Turbans glänzte Schweiß auf seiner Stirn. Auch sein Bart, der ihm bis auf die Brust herabhing, war ungewöhnlich hell.

»Salaam-u-alaykum«, sagte er.

»Salaam.«

»Gib dir keine Mühe«, entgegnete er.

»Wie bitte?«

Mit flacher nach oben gestreckter Hand gab er einem der bewaffneten Männer einen Wink, und ehe ich mich’s versah, hatte der mir den Bart heruntergerissen und warf ihn mit einem Kichern in die Luft. Der Talib grinste. »Immerhin einer von der besseren Sorte. Aber so ist dir doch bestimmt wohler, oder?« Er spreizte die Finger, schloss sie zur Faust und spreizte sie wieder. »Die heutige Show hat dir, inshallah, gefallen.«

»Sollte das eine Show gewesen sein?«, fragte ich und massierte mir die brennenden Wangen. Ich hoffte, dass meine Stimme nicht verriet, wie groß mein Schrecken war.

»Was wäre sehenswerter als öffentlich vollstreckte Gerechtigkeit, mein Bruder? Da ist alles drin: Dramatik, Spannung. Und das Beste ist, sie wirkt erzieherisch.« Er schnippte mit den Fingern. Der jüngere der beiden Leibwächter zündete ihm eine Zigarette an. Der Talib lachte. Murmelte etwas in seinen Bart. Seine Hände waren zittrig, und fast hätte er die Zigarette fallen lassen. »Aber du hättest einmal mit mir in Mazar sein sollen. Im August 1998. Das war eine noch viel bessere Show!«