Asmund drückte sich wie ein unsichtbares Mäuschen in eine Ecke. Schließlich war er zum ersten Mal bei einer echten Ratsversammlung dabei!
Diesmal waren nicht nur Magier gekommen. Die Obersten der Ausbilder, ferner Kämpfer, Ärzte, Giftmischer und Handwerksmeister. Ritors Bruder Kan war ebenfalls anwesend; heute hatte er alle Hände voll zu tun.
Der Ratssaal war vollkommen unversehrt. Kein noch so gewalttätiges Element konnte die Schutzformeln erschüttern, die schon die Begründer in seine Mauern gewirkt hatten; jene Neuankömmlinge, die als Erste aus dem Nebel des Heißen Meeres an den Gestaden des Warmen Ufers gelandet waren. Wie schon zuvor gab es hier keinen Tropfen Wasser, kein Staubkörnchen und nicht den leisesten Widerschein eines Feuers. Hier herrschte nur die bewegungslose, in konzentrierter Ruhe verharrende Luft.
Fast vierzig Augenpaare blickten Ritor an.
»Brüder«, der Zauberer erhob sich, »zuallererst und vor allen Dingen lasst uns unsere verehrten Magier Roj und Gaj preisen, ebenso wie unsere hochgeschätzten Gefährten Eduljus und Solli. Sie gaben alles, damit unsere Sache von Erfolg gekrönt wäre.« Ritor liebte derartige Zeremonien nicht, hier offenbarte seine Beredsamkeit Schwächen, aber daran war nun nichts zu ändern. »Die Hälfte, ja sogar zwei
Durch den Saal lief ein kurzes, beherrschtes Aufseufzen. Ritor blickte in die angespannten Gesichter - nein, bei keinem konnte er so etwas wie versteckte Freude wahrnehmen. Er hoffte von Herzen, dass man ihn wenigstens in seinem eigenen Clan nicht betrog.
»Der Drachentöter ist dort erschienen, wo man mit ihm rechnen musste, nämlich im fernen Norden, bei der Grauen Grenze. Von nun an werden wir ihm immer auf den Fersen sein. Wir müssen ihn zu fassen bekommen ... ehe er die Weihen erlangt. Ehe der Clan des Wassers ihn findet und unter seine Fittiche nimmt. Sonst ist ein Krieg unvermeidbar. Und wir sind kaum in der Lage zu kämpfen.«
Wieder kam leise Bewegung in die Versammlung. Was ein Krieg mit dem Clan des Wassers bedeutete, war jedem klar.
»Wir können den Clan nicht schutzlos zurücklassen. Daher kann ich nicht viele von euch mitnehmen. Sandra und Asmund ... alle anderen werden hier gebraucht.«
»Zu dritt könnt ihr es nicht schaffen«, sagte Schejmo, das Oberhaupt der Ausbilder. »Auch wenn der Drachentöter noch nicht den Gipfel seiner Kraft erreicht hat.«
»Das stimmt.« Ritor nickte. »Gib mir zwei deiner besten Paare, Schejmo.«
»Kevin und Erik«, rief der alte Haudegen, ohne zu zögern, und es erklang zustimmendes Murmeln im Ratssaal.
»Ich komme auch mit«, sagte Kan leise, aber so, dass alle es vernehmen konnten. »Zauberformeln sind nicht alles, Ritor.«
Der Magier blickte seinen Bruder durchdringend an. Seit Taniels Tod waren sie noch nicht dazu gekommen, richtig miteinander zu sprechen. Und der Körper seines Neffen
Die Augen seines Bruders waren schwarz und unergründlich. Zu schwarz und zu unergründlich.
»Gut«, sagte Ritor entgegen seiner Überzeugung. »Nimm noch einen Helfer mit, Kan, damit du mehr tun kannst, als nur Wasser zu kochen. Wir brechen in Kürze auf. Der Wagen des Windes kommt in zwei Stunden bei uns durch.«
Die Station unweit der Hauptstadt des Clans der Luft war um einiges prächtiger als die Provinzbahnhöfe. Das Gebäude aus weißem Marmor dürfte die Gnome ein Vermögen gekostet haben, aber sie hatten keine andere Wahl, mussten sie doch dem Elementaren Clan in direkter Nachbarschaft der Route ihre Reverenz erweisen. Die Springbrunnen vor dem Bahnhof und im Wartesaal wurden von speziellen Pumpen gespeist; ungeachtet der herbstlichen Jahreszeit erfreuten grüne Grasflächen in jungfräulicher Unberührtheit das Auge. Die Säulen und der Portikus verliehen dem Gebäude das Aussehen eines griechischen Parthenons, wenn man Boletus’ Worten glauben durfte.
Um den Bahnhof herum hatte sich einiges Volk versammelt. Hauptsächlich Leute aus den nahen Dörfern, aber auch Gnome, deren Gruben in östlicher Richtung, in den Alten Bergen, im Gegensatz zu den meisten anderen am Warmen Ufer noch nicht erschöpft waren. Als die Leute Ritor und sein Gefolge erblickten, begannen sie das Weite zu suchen. Händlerinnen, herumlungernde Elfen, sorgenvolle Gnome, Menschen - einer nach dem anderen verdrückte sich unauffällig vom Bahnhofsvorplatz. Es lohnte sich in keinem Fall, den Zauberern eines Elementaren Clans in die Quere
Ohne irgendjemanden anzusehen, betrat Ritor den Saal. Selbstverständlich nicht den allgemeinen, sondern den mit der Aufschrift: »Nur für Magier und deren Begleiter«. Die Gnome hatten sich auch im Inneren des Gebäudes bemüht. Ritor hatte keine Ahnung, wen sie hier imitierten, aber die Pracht hatte etwas Aufdringliches. Flauschige Teppiche, die, wie dem Magier schwante, erst kurz vor seiner Ankunft ausgelegt worden waren, wundersame Pflanzen in Kübeln, Kristall, Vergoldungen, Mahagoni ... Hier drinnen wurde alles in perfekter Ordnung gehalten.
Fahrkarten allerdings mussten auch die Magier kaufen. Sogar die der Elementaren Clans.
Über dem Fenster eines Fahrkartenschalters hing eine schwarze Tafel, auf der mit goldenen Buchstaben geschrieben stand: »Kinder und Magier erhalten Ermäßigung«.
»Das heißt, ich bekomme eine doppelte Ermäßigung!«, freute sich Asmund. »Ich bin noch keine sechzehn.«
Die Gnomfrau am Fahrkartenschalter bemühte sich, ihren Ärger zu verbergen. »Das ist völlig unmöglich, junger Mann. Es gibt immer nur eine Ermäßigung.«
»Und worauf gibt es mehr Ermäßigung?« Der Junge ließ sich nicht einschüchtern. Ritor wies ihn nicht zurecht, denn er wusste, dass Asmund in Wirklichkeit schreckliche Angst hatte. Dem blutjungen Magier war klargeworden, dass die Zeit des Spielens vorüber war, und er versuchte nun auf diese vorlaute Weise, sich selbst und die anderen über seinen wahren Zustand hinwegzutäuschen.
»Für Kinder.« Die Fahrkartenverkäuferin schmunzelte. Ihr Kinn voller kleiner Härchen zitterte. »Aber nur während der Sommerferien ...«
Sogar die Magier bemühten sich darum, jeden überflüssigen Streit mit den Gnomen zu vermeiden, denn diese waren die faktischen Herren über die Eiserne Route. Die Gnome kannten sich mit Dampf und Elektrizität aus und waren für ihre Resistenz gegenüber den Elementaren Zauberkünsten berühmt. Natürlich, wenn man sie ernsthaft in die Zange nehmen würde - selbst so einer wie der junge Asmund hätte das vermocht -, so würde das böse für die Gnome ausgehen, andererseits ... Ritor hatte den starken Verdacht, dass der eine oder andere unter den alten Zauberern der Clans die Dampfloks durchaus fürchtete und ihre Technik für eine ihm unbekannte Art der Zauberei hielt.
»Wir sind neun«, sagt Ritor. »Neunmal mit eigenem Abteil, nebeneinander, bitte. Einen Waggon. Für den Wagen des Windes. Bis ... bis ganz zur Grenze.«
»Seien Sie unbesorgt.« Die Gnomfrau verzog eilfertig die Lippen. Ihr Lächeln ließ Ritor zusammenzucken. »Sobald der Zug eintrifft, hängen wir einen Waggon dran.«
Sie ergriff das Geld mit ihrer zottigen Pfote und reichte Ritor neun Stücke Karton, die golden eingefasst waren und an den Rändern rätselhafte Einschnitte - wie Lettern - aufwiesen.
»Wir setzen uns und warten«, befahl Ritor.
Es war sinnlos, mit dem Aufbruch bis zur Dunkelheit zu warten oder sich auf andere Weise zu verbergen. Torn und seine Spürhunde waren nicht in der Lage, Ritor zu fassen, so wie Ritor nicht in der Lage war, Torn zu fassen. Die Gnome - das wusste jedermann - waren verschwiegen und handelten nicht mit fremden Geheimnissen. Deshalb hatten sie so lange überlebt, waren nicht verschwunden wie andere, die die neue Ordnung nicht hatten annehmen können.
Der Zug erschien pünktlich zum angekündigten Zeitpunkt in der Kurve. Den Begriff Verspätung kannten Gnome nicht. Der Waggon für Ritor und seine Gefährten war schon an den Bahnsteig geschoben worden. Außerdem, so wusste der Zauberer, würde noch eine zusätzliche Dampflok angehängt werden, damit der Zug auf der weiteren Fahrt auch nicht einen Jota seiner Geschwindigkeit einbüßte. Wie gut, dass immer eine Lok parat stand, sonst hätte man womöglich einen anderen Waggon abhängen müssen, einen von der Kategorie »ohne eigenen Platz«, und die Reisenden darin wären gezwungen gewesen auszusteigen. Dabei war das Publikum im Wagen des Windes nicht das schlechteste: Kaufmannsgehilfen und Kommisverkäufer aus der Nachbarschaft, manchmal auch die Kaufmänner selbst, die Geld sparen wollten.