Endlich verschwand die bekannte Landschaft schwankend aus dem Blickfeld. Ritor atmete tief durch und ließ sich gegen die plüschbezogene Rückenlehne des Schlafsofas sinken. Jetzt sollte der Tee serviert werden, und dann würden sie sich etwas erholen können. Torn wusste wohl kaum, wo er zu suchen hatte ...
»Du steigst an der nächsten Haltestelle aus«, wiederholte Viktor noch einmal mit strenger Stimme. Der Sohn des Grenzers nickte eifrig, ganz als würde er damit jedes Mal eine große Wahrheit anerkennen. »Und dann machst du alles so wie vereinbart.«
»Ja, Herr ... ich bin glücklich ... wir konnten dir dienen ...«
»Nun, jetzt ist genug«, sagte Viktor und fügte dann instinktiv hinzu, genau wie seine Mutter es früher getan hatte, wenn sie zusammen zu Großmutter Vera gefahren waren:
Die Station war klein, schäbig und versank in einem Meer gelben Laubs. Nur die Pappeln widerstanden hartnäckig dem Herbst. Von den Wänden des niedrigen gelben Bahnhofsgebäudes mit dem schiefen Dach bröckelte der Putz, die Fenster waren vergittert.
Jaroslaw blickte Viktor an, und in seinen Augen lag aufrichtige Pein. »Leb wohl, Herrscher ...«
»Was soll das?« Viktor tat verwundert. »Wir werden uns wiedersehen ... auf jeden Fall. Und dann gedenken wir deines Vaters und deiner Brüder.«
»Wirklich?« Der Junge war buchstäblich atemlos vor Freude.
»Ganz sicher.« Viktor bemühte sich, den Jungen zu beruhigen. »Aber jetzt musst du gehen, verlier keine Zeit.«
Er verließ gemeinsam mit Jaroslaw das Abteil.
»Steigen Sie aus?«, erkundigte sich der Gnom gleichgültig, während er im Windfang mit verschiedenen aus der Wand ragenden Griffen und Hebeln hantierte.
»Er steigt aus.« Viktor deutete auf den Sohn des Grenzers. »Ich bleibe.«
»Aha ... Aber passen Sie auf, Fahrkarten kann man nur an den Bahnhöfen kaufen, da sind wir sehr strikt. Wenn Sie die letzte Station auf Ihrer Fahrkarte erreicht haben und noch weiter fahren wollen, müssen Sie aussteigen. Ich verkaufe keine Fahrkarten«, fuhr er mit derselben Gleichgültigkeit fort.
»Danke, ich werde mich dran halten«, sagte Viktor. Er blieb auf der obersten Stufe des Treppchens stehen und folgte dem jüngsten Sohn des Grenzers mit dem Blick. Jaroslaw schlenderte langsam auf den Bahnhof zu. Viktor war
Sie stürzten hinter den Stämmen der Pappeln hervor, zwei von jeder Seite, schnell und geräuschlos; in Viktors Wahrnehmung entlud sich all ihre angestaute Wut und Rachgier in einem donnernden Wasserfall. Sie hatten Verluste erlitten, sie waren nur noch zu viert - und jetzt waren sie gekommen, um zu töten. Viktor hatte keine Ahnung, wie sie es geschafft hatten, den Zug einzuholen; vermutlich hatten die Magier dieser Welt geheime Wege. Aber in diesem Moment war das nicht wichtig.
Vier Mann aus dem Strafkommando des Wasserclans, angeführt vom Magier Gotor.
»Lauf!«, brüllte Viktor hinter Jaroslaw her.
»Gedenken Sie nun auszusteigen?«, fragte der Gnom schmeichelnd.
Viktor gab keine Antwort. Er musste losstürzen und sein Schwert holen ... er wollte sich in Bewegung setzen, hob schon den Fuß vom eisernen Boden, da begriff er, dass ihm das Schwert hier nichts nützen würde ... Er brauchte etwas anderes ... etwas von innen heraus.
»Bleibt stehen, ihr alle!«, rief er, noch ehe ihm klargeworden war, was er tun konnte. »Lasst meinen ... treuen Diener in Frieden!«
Der Junge dachte gar nicht daran davonzulaufen. Er holte seinen Dolch hervor, hockte sich hin und lächelte. Er wusste, dass es kein Entkommen gab. Der Herrscher musste ihn retten, alles andere war bedeutungslos.
Drei der Verfolger gingen ohne Eile auf den Jungen zu. Gotor war stehen geblieben und sah Viktor herausfordernd an.
»Was stehst du da herum? Steig aus, komm her!« Hinter seiner Aufforderung verbarg sich Angst.
»Wieder stellst du dich mir in den Weg, Gotor«, sagte Viktor. In seinem Innern machte sich bereits der harte Klumpen kalten Zorns breit. »Diesmal entkommst du mir nicht. Weißt du noch, was ich dir versprochen habe ...?«
Wieder hatte er keine Ahnung, was er als Nächstes tun würde. Zuschlagen? Womit? Er hatte kein Schwert.
Gotor blieb nicht stehen. Sein kurzer blauer Mantel war nicht mehr so sauber wie anfangs, und an mehreren Stellen klafften Risse; offenbar war das Reisen auf geheimen Pfaden nicht gerade einfach. Aber auf seinem Gesicht machte sich etwas Neues breit - so etwas wie Verdammnis.
Inzwischen rückten drei Verfolger auf Jaroslaw zu.
Gotor hob die Hand.
Hinter dem Bahnhof erhob sich, die Schwerkraft ignorierend, aus den Wurzeln der Pappeln eine riesenhafte Flutwelle in die Höhe; brodelnder Schaum krönte ihren Kamm - wie ein einziger weißer Federstrich auf schwarzblauem Hintergrund. Im Krachen der umstürzenden Bäume wurden alle anderen Geräusche erstickt. Die Welle war gigantisch, ein wahrhaftiger Tsunami, der aus dem Nichts in dieser Ebene aufgestiegen war. Und Viktor wusste, die ganze Kraft dieses monotonen Kolosses war auf ihn gerichtet. Die Welt hatte sich verdunkelt, er befand sich in höchster Gefahr, gleich würde er zerquetscht, zu Staub zermalmt werden.
Gotor würde nicht noch einmal jenen Dämon rufen, der ihn bloßgestellt hatte; den Wassergeist oder wie auch immer jenes Wesen genannt wurde.
Viktor warf sich nach vorne. Schnell, Junge, besinn dich auf das, was man dir beigebracht hat.
Der Magier des Wassers machte mit den Händen eine Bewegung, als würde er einer Gans den Hals umdrehen.
Viktor sprang.
Sicher, jeder beliebige Trainer hätte einen solchen Mae Geri - einen Tritt im Sprung - ohne viel Federlesens mit den Fäusten abgewehrt. Aber für Gotor war er ausreichend, der Zauberer dachte gar nicht daran, sich zu verteidigen. Von Viktors unbeholfenem Tritt mit der Fußspitze in die gegnerische Leiste krümmte Gotor sich zusammen; die Kräfte, die jener sich aufbäumenden Welle geboten, fielen in sich zusammen. Die Flut löste sich auf, als ob sie nie da gewesen wäre.
Ein kurzer Aufschrei erklang.
Viktor hob den Kopf.
Blut. Jaroslaws Körper lag mit kraftlos nach hinten geworfenen Armen in einer dunkelroten Lache. Klumpen schmutzig-weißen Pappelflaums - woher konnte der im Herbst kommen? - saugten gierig das Blut des Kindes auf.
Zwei Verfolger standen über dem Leichnam. Mit gezückten Schwertern, denn sie hatten begriffen, dass man im Kampf gegen die Wächter der Grauen Grenze gewöhnliche Waffen gebrauchen musste. Ein dritter saß auf dem Boden und hielt sich die schwer getroffene Schulter, rote Rinnsale quollen zwischen seinen Fingern hervor. Die Mörder, in deren Händen sich bereits Wasserpeitschen wanden, drehten sich nun wieder Viktor zu.
Hinter ihm begann Gotor sich zu regen. Und das Signal zur Abfahrt des Zuges ertönte. Wenn diese Typen nun wie beim letzten Mal wieder keine Fahrkarten hätten ...
Viktor drehte sich um und rannte los, dabei rechnete er jede Sekunde mit einem reißenden Schmerz. Er vermutete, dass sich die Peitschen auf seinen Schultern anfühlen würden, als fiele man in eine Kreissäge.
Im letzten Moment kam ihm ein Abenteuerfilm in den Sinn, und er sprang, für seine Verhältnisse ziemlich gewandt, in die Luft und gleichzeitig zur Seite. Es gelang ihm nicht allzu gut, aber die biegsame Wasserrute ging knapp an seinem Kopf vorbei nieder, und eiskalte Wassertropfen spritzten ihm ins Gesicht.