Kreidehügel, auf deren abgeschnittenen Gipfeln schneeweiße Paläste standen. Regenbögen über allen Brunnen - als wäre die ganze Stadt in einem blauen Netz verflochten, über dem farbige Lichtreflexe tanzten. Die Straßen waren ebenfalls weiß, sauber ... Es fiel dem Clan leicht, Stopolje so strahlend rein zu halten, ging doch jede Nacht ein kurzer erfrischender Regenguss auf die Stadt nieder, so dass aller Schmutz durch die Kanäle ins Meer gespült und dort von gehorsamen Meeresströmungen weit weg vom Ufer getrieben wurde.
Loj unterdrückte eine unerwünschte Regung von Eifersucht, die sie beim Anblick der Stadt erfasste. Schön. Dies war nicht ihre Stadt, nicht ihr Clan, und vermutlich würden die kristallene Reinheit der Luft und das Plätschern der Brunnen sie ohnehin in kürzester Zeit langweilen. Jetzt musste sie sich auf etwas anderes konzentrieren, nämlich wie sie am Leben bleiben und trotzdem ihr Vorhaben erreichen konnte.
Der Zug hielt mit einem lauten Zischen auf Höhe des Bahnhofsgebäudes, das mit zartrosafarbenem Muschelkalk verkleidet war. Augenblicklich strömten die Massen aus den Wagen - man konnte sich nur wundern, wie viele Menschen in diesen Holzschachteln Platz gefunden hatten. Stopolje war eine große Stadt. Von den Clans der vier Elemente
Loj stieg als Letzte aus dem Waggon. Ihre Nachbarinnen waren schon vom Bahnsteig gehumpelt, der entehrte, aber nicht verärgerte Reiter hatte sich mit einem letzten Blick zurück ebenfalls entfernt, und sie stand immer noch da und versuchte, sich ein Herz zu fassen.
»Was kann ich für Sie tun, meine Dame?«
Hatte der Träger wirklich nicht gesehen, dass sie kein Gepäck mit sich führte? Sie winkte ab und schritt auf das Bahnhofsgebäude zu. Auch hier mangelte es nicht an Manifestationen der Kraft. Das Wasser hatte nicht mit großen Gesten gegeizt: In der Mitte des Saals stand ein Brunnen, dessen Strahlen langsam, ohne Eile in die Höhe flossen, als ob sie nicht aus Wasser, sondern aus einer klebrigen Substanz, einer Art dickem Sirup bestünden; der Boden unter den Füßen war ein durchsichtiger See, vermutlich unterirdisch von elektrischer Magie beleuchtet. Man beschritt diesen Boden und wusste nicht, ging man auf Glas, das einen See bedeckte, oder auf Wasser, welches - entgegen allen Regeln der Natur - zu einer unnachgiebigen Oberfläche geworden war.
Auch hier zog Loj fremde Blicke auf sich. Aber weniger - denn Stopolje wimmelte nur so von Menschenadel, und die hübschen Mädchen kamen aus allen Ecken des Landes hierher.
Loj aß im Bahnhofsrestaurant ein wenig von dem außergewöhnlichen Fisch, den man in den freigebigen Tiefen des Meeres fing; es wäre eine Sünde gewesen, die Gelegenheit nicht zu nutzen. Dann trat sie hinaus auf die Straße.
Das Leben brodelte. Auf Leiterwagen und Handkarren wurden allerhand Waren zum Bahnhof transportiert - hauptsächlich jener Fisch, der gedörrt, getrocknet oder durch eine magische Beschwörungsformel so konserviert wurde, dass er auch an der Luft wenigstens eine Woche lang am Leben blieb. Der Clan war geschickt, er nahm sich mit seiner Kraft, was ihm zustand, und versäumte es auch nicht, mit Beschwörungsformeln zu handeln. Festlich gekleidete Menschen und Elfen schlenderten vorbei (männliche Elfen allerdings weniger als weibliche); wahrscheinlich waren sie von weit her angereist, von der Grauen Grenze oder den Eisernen Bergen, um hier am Warmen Ufer ihr ehrlich verdientes oder auch unrechtmäßig erworbenes Geld auszugeben. Und natürlich spazierten scharenweise junge Mädchen umher, die Loj misstrauische Blicke zuwarfen - war sie eine Konkurrentin oder nicht? Es gab auch Arme, die an den Kreuzungen um eine Gabe bettelten. Aber selbst die sahen hier anders aus und riefen nicht jenen verächtlichen Ärger hervor wie zu Hause. Und sogar die käuflichen Frauen, deren Anblick Loj für gewöhnlich zornig machte - Liebe ist keine Handelsware, man kann sie verschenken, aber nicht verkaufen! -, schienen hier ein unverzichtbares, fröhliches Element des Gesamtbildes.
Ein merkwürdiger Ort war dieses Stopolje. Hier gab es von allem viel, sowohl Magie als auch Geld, Fröhlichkeit und Sünde. Und alles war so kunstvoll miteinander verwoben, dass man nicht ein Fädchen herausziehen konnte, ohne das Ganze zum Zusammenstürzen zu bringen.
Die Paläste, in denen die Clanmitglieder lebten, erstreckten sich entlang des Flusslaufes, der eine Schleife beschrieb. Früher hatte es das Flüsschen nicht gegeben, es war erst mit den Magiern des Clans gekommen, als jene sich endgültig entschieden hatten, die Stadt zu bevölkern und zu ihrer Wohnstatt zu machen. Loj hatte es nicht eilig - ach, wie schön wäre es, einfach nur so umherzubummeln und dann nach Hause zurückzukehren; schließlich ging sie über ein zierliches Brückchen und blieb stehen, um der Kraft zu lauschen. Der fremden Kraft ...
Hier kam niemand mehr zufällig her. Und wenn sich doch mal jemand verirrte, würde ihm schnell bedeutet, dass er hier fehl am Platz war. Zuerst würde ein unerwarteter Schauer dafür sorgen, dass er bis auf die Knochen durchnässt wäre; als Nächstes würde er in eine aus dem Nichts aufgetauchte Pfütze stolpern; und dann käme ein Wassermonster - nicht gerade ein angenehme Erfindung - und würde sich an seine Fersen heften; spätestens dann würde auch der Dümmste verstehen, dass es besser wäre, von hier zu verschwinden.
Aber Loj hatte nichts dergleichen zu befürchten. Man würde ihre Kraft schnell spüren ... Torn benachrichtigen ... und dann konnte es losgehen.
Sie setzte sich auf ein Bänkchen gegenüber der Magierschule und stellte sich darauf ein, eine Zeit lang zu warten. Sie beobachtete die spielenden Kinder ... viele, sehr viele Schüler hatte das Wasser. Es hieß, die Lehranstalten des Feuers und der Luft seien in den letzten Jahren schwächer geworden. Es war traurig, denn so etwas störte das Gleichgewicht zwischen den Clans und begünstigte Streitereien und Kämpfe. Natürlich, Quantität war nicht gleich Qualität, und ein durchschnittlicher Schüler der Luft war vermutlich
Aber die Kinder hier spielten genau so, wie alle Kinder eines jeden Clans es taten, und stürzten sich nach dem Unterricht begeistert hinaus an die frische Luft. Einige versuchten Peitschen zu wirken, wobei sie verstohlen zu den Fenstern hinaufblickten, denn offiziell war ihnen die Kriegsmagie strengstens verboten. Zweien von ihnen gelang es tatsächlich - und jetzt hieben sie mutwillig aufeinander ein und versuchten die Waffe des anderen zu zerschlagen. Loj schüttelte den Kopf; das würde nicht ohne Verletzungen abgehen, die beiden konnten froh sein, wenn sie keine Fleischwunde davontrugen. Eine ganze Schar formte einen Wasserdämon - erfolglos, natürlich, denn dafür war mindestens der siebte Rang vonnöten, und das dazugehörige Wissen wurde auf der Schule gar nicht gelehrt. Einige ältere Schüler führten ein tiefschürfendes Gespräch, während sie immer wieder zu Loj hersahen. Genau wie die Studenten am Bahnhof ... Loj musste lachen.
»Loj Iwer?«
Sie wandte sich um.
Die Abordnung war völlig lautlos an sie herangetreten. So lautlos, dass Loj ihr Nahen erst eine Minute zuvor gespürt hatte und von diesem Moment besonders interessiert auf den Schulhof gestarrt hatte.
Drei Magierkämpfer. Und ein Magier dritten Ranges.
Oho!
Verwegener Übermut erfasste Loj. Wenn schon so ein wichtiges Vögelchen ... ach nein, so ein wichtiger Fisch auftauchte, um sie zu holen. Das hieß, Torn wusste bereits
Lass uns spielen, Kätzchen ...
»Ach, Kinder, ich war es schon müde zu warten ...« Loj lächelte liebenswürdig und erhob sich von der Bank. »Ich habe mir euren Nachwuchs angesehen. Da wachsen Talente heran!«
»Talente gibt es nicht allzu viele«, antwortete der älteste Magier, ohne seinen aufmerksamen Blick von ihr abzuwenden. Sein Gesicht war bleich und leidend; entweder litt er tatsächlich an einer Krankheit, oder er hatte in letzter Zeit eine große Menge Kraft verloren. »Alle Talente sind schon eingezogen worden.«