Außerdem bedeutet doch alles, was passiert ist, dass dies hier wirklich meine Welt ist, dachte er. Wie war das noch? Feuer aus den Händen? Auf der Anderen Seite würde jeder sagen, dass es so etwas nicht gab. Und damit hätte er Recht. In jener ruhigen langweiligen Welt, in der die Menschen von genau dieser Langeweile verrückt wurden,
»He, Soldat!« Eine heisere Stimme sprach ihn an.
Abrupt drehte sich Viktor um, doch da waren nur zwei Gnome. Offenbar waren sie von der Brückenwache. Beide hatten Armbrüste bei sich, und einer trug eine große Laterne, vermutlich eine Kerosinlampe.
»Bist du unverletzt, Soldat?«, fragte einer von ihnen, ein untersetzter Bärtiger, freundlich. Die Armbrust hing über seiner Schulter, als wollte er auf diese Weise seine friedlichen Absichten demonstrieren, sofern das bei seiner grimmigen Physiognomie überhaupt möglich war. »Wir haben gesehen, wie du aus dem Fenster gesprungen bist ... Und was dann passierte ... Wir waren uns sicher, das war’s, die vom Wasser machen dich fertig. Aber nein, sieh einer an! Jemand hat ein Feuerchen angemacht. Durchs Fernrohr sieht er ganz und gar nicht wie einer vom Wasser aus. Da haben wir beschlossen vorbeizuschauen.«
»Und ... habt ihr das Mädchen ... auch gesehen?«
»Welches Mädchen?« Der Gnom schien aufrichtig verwundert. »Wir haben kein Mädchen gesehen. Was meinst du denn? Du bist doch allein gesprungen. Dart hier«, er nickte in Richtung seines Begleiters, »stand gerade auf dem Posten und hat alles gesehen! Wie der Zug kam, das Fenster geöffnet wurde. Wie du gesprungen bist und wie die Wassermagier hinter dir her sind. Sonst hat er niemanden gesehen.«
So ist das also, dachte Viktor. Wieder einmal ist Tel verschwunden, ohne dass diese Einfaltspinsel sie auch nur bemerkt hätten. Es ist sinnlos, diese beiden hier weiter auszufragen. Am besten, ich denk nicht mehr drüber nach.
»Was stehst du hier herum, Soldat? Komm mit zu uns. Wir werden schon ein Plätzchen für dich finden«, sagte Dart.
»Aber ihr seid doch im Dienst«, wunderte sich Viktor. »Könnt ihr das einfach machen?«
»Ah, du bist wohl von der Anderen Seite gekommen«, vermutete der erste Gnom. Viktor nickte.
»Lass uns gehen. Wir arbeiten nicht für das Wasser. Wir arbeiten für niemanden. Nur für uns selbst. Wir bewachen die Route, und mit den Magiern haben wir nichts zu schaffen. Dich haben sie ja ordentlich geröstet, das haben wir gesehen ... Aber wie hast du es bloß geschafft, ihnen die Suppe zu versalzen, hä?« Der Gnom schmunzelte.
»Irgendwie ist es mir halt gelungen.« Unwillkürlich nahm Viktor den Ton des anderen auf. »Wir haben uns ordentlich geprügelt.«
»Na, du wirst jedenfalls mal ein starker Kerl werden«, bemerkte der Gnom wohlwollend, während sie zum Wachturm hinaufstiegen. »Dich haben sie nicht umsonst von der Anderen Seite ausgestoßen. Du hast es ihnen ordentlich gegeben! Kannst du auch Feuer lenken? Ich rate dir, mach dich auf zum Clan des Feuers ... das ist nicht gerade der nächste Weg, aber wir helfen dir, dann kannst du mit dem Zug fahren. Unsere Kollegen bringen dich schon hin.«
»Aber fürchtet ihr denn die Magier des Wassers nicht?«, fragte Viktor. Dart öffnete die Tür des in die Böschung gebauten Wachturms.
»Wir bemühen uns, mit allen in Frieden zu leben«, antwortete der andere ernst. »Schließlich kommen wir weder
In der Wachstube war es warm und sehr gemütlich. Es roch gut nach Schmieröl, Schießpulver und warmem Brot. Auf der gewaltigen, dicken Tischplatte stand ein irdener Topf voll Milch.
»Zieh dich aus«, sagte Dart. »Nimm das Fell dort und wärm dich damit, ihr Menschen seid ja ein schwächliches Volk.«
Viktor war nicht beleidigt.
»Schlaf jetzt, Soldat«, vernahm er noch als Nächstes. »Der Weiße Adler kommt erst morgen früh hier durch. Wir bringen dich schon im Zug unter, und mit dem fährst du dann geradewegs bis nach Oros. Es soll eine schöne Stadt sein, direkt am Warmen Ufer gelegen ...«
Die Nacht verging ohne Träume und ohne weitere Ereignisse.
Beim Morgenanbruch weckten sie Viktor. Die beiden Gnome vom Vorabend waren nicht mehr zu sehen, aber die anderen wussten über ihn Bescheid.
Seine Kleider waren getrocknet. Die gutmütigen Wächter hatten sein Säckchen mit so viel Proviant gefüllt, wie nur irgend hineinpasste, und der Weiße Adler fuhr ganz nach Fahrplan auf die Brücke zu, bremste für einen Augenblick
Niemand verlangte Geld, der Schaffner schien über alles Bescheid zu wissen. Für Viktor stand eine ganze Liegebank zum Schlafen bereit.
So seltsam es auch war, seit dem Kampf am Vorabend war eine wundersame Ruhe über ihn gekommen. Die Magie gehorchte ihm? Sehr gut! Er würde es als gegeben hinnehmen, denn wenn er erst darüber nachzudenken begann, würde er den Verstand verlieren; der Kampf mit dem Wasser, die Leute, die er getötet hatte; möglicherweise war unter ihnen auch einer wie er selbst gewesen, einer von der Anderen Seite; nein, er war ruhig und beherrscht.
Und konnte er überhaupt anders sein? Er, der Drachentöter?
Jetzt lag er also hier im Zug auf frischer Wäsche und reiste zum Warmen Ufer, in das geheimnisvolle Oros, wo der Clan des Feuers lebte ...
Und wirklich hatte sich etwas in seinem Inneren verändert. Wahrscheinlich hatte sich die Angst zurückgezogen, war ein Stück zurückgewichen. Als ob ein Teil einer in ihm schlummernden Kraft erwacht sei, als hätte er nicht einfach nur gekämpft, sondern auch ... auch ... einen Teil der fließenden Gewalt des Wasserelements in sich aufgesogen.
Jetzt würde er nicht mehr umkehren, ehe er nicht alles bis zum Ende in Erfahrung gebracht hatte. Ganz gleich, auch wenn er das nicht brauchte, es ihm eigentlich nicht wichtig war, ganz gleich, dass er noch bis vor kurzem nach Hause hatte zurückkehren wollen, in seine gewohnte Welt auf der Anderen Seite. Jetzt würde er zum Warmen Ufer fahren ... und alles mit eigenen Augen sehen.
Ritor blickte nachdenklich in den sich langsam verfärbenden Abendhimmel.
Der Wagen des Windes schnaufte, während er den langen steilen Aufstieg überwand. Die Suchformel aufrechtzuerhalten war nicht einfach. Sandra und Asmund halfen Ritor, so gut sie konnten; im Abteil herrschte Schweigen. Kan hatte sich mit seinem Schüler zurückgezogen - sie hatten beim Schaffner kochendes Wasser verlangt und wollten verschiedene Tinkturen und Aufgüsse ansetzen. Kevin und Erik, die Ältesten der beiden Paare, hatten wieder mal einen Wettkampf angezettelt und ihre beiden Jungen »zur Hand« angewiesen, Pfeilwerfen zu trainieren.
»Er sitzt auch in einem Zug«, bemerkte Sandra, die vor Aufregung sogar ihre gewohnte Meeresrhetorik vergaß.
Ritor nickte.
»Sie schleifen ihn nach Süden. Ich denke, das ist Torns Werk. Er kann sonst nirgendwo mehr seine Weihen durchlaufen«, sagte Asmund, wobei er seinen ganzen Mut zusammennehmen musste.
»Wenn Torn seinen Verstand beisammen hat, dann wird er versuchen, ihm die Weihen schon vorher zu ermöglichen«, wandte der alte Magier ein.
»Und können wir das feststellen?«, fragte Asmund eifrig.
»Und ob wir das können, meine kleine Flunder«, sagte Sandra fast zärtlich. »Wenn wir hier nur ordentlich schwitzen.«
»Ich denke, wir schwitzen ordentlich«, lächelte Ritor. »Ich würde ungern erst dann auf den Drachentöter treffen, wenn er schon alle vier Initiationen hinter sich hat.«
»Aber kann er denn die Weihe der Luft erhalten, wenn wir das nicht wollen?«, fragte Asmund hartnäckig.
»Ja, leider kann er das«, seufzte Ritor. »Wir haben keine absolute Kontrolle über die Luft, sonst würden wir dafür sorgen, dass unsere Feinde einfach aufhören zu atmen.«
Asmund wurde rot.
»Mach dir nichts draus.« Sandra legte Asmund in einer ganz und gar nicht mütterlichen Geste die Hand auf die Schulter. »Die Weihen des Drachentöters habt ihr nicht im Unterricht durchgenommen ... und das wird vorläufig auch nicht der Fall sein.«