Er wunderte sich fast überhaupt nicht, als er sich im weißen Sand wiederfand, neben ihm plätscherte das schwarze Wasser. Seine Träume folgten einer inneren Logik, daher war er völlig nackt, wie in Wirklichkeit, und sogar die Blutergüsse und Prellungen waren vorhanden.
Hinter der Wiese mit dem schneidenden Riedgras - ach, diesmal würde er sie barfuß durchqueren müssen - war eine Brandstätte zu sehen. Zwei, drei verkohlte Pfeiler ragten aus der Erde; haufenweise kohlrabenschwarze, aber nicht völlig verbrannte Gegenstände lagen herum; vermutlich eben jene »Modelle« ...
Was hatte der kleinwüchsige Dickwanst beim letzten Mal gesagt? »Geh ins Wäldchen«? Dann würde er dieser Aufforderung jetzt nachkommen.
Viktor nahm wieder den von ihm selbst gespurten Pfad, denn das Gras hatte sich noch nicht wieder aufgerichtet. Er spürte, wie die scharfen Halme in seine Beine stachen, versuchte aber, nicht darauf zu achten. Es war nur ein Traum, nichts weiter. Es würde nichts Schlimmes passieren. Besser, er freute sich an der Landschaft ... obwohl, das war kaum möglich, sie war einfach zu unnatürlich. Wie das
So weit das Auge reichte, halbdurchsichtige Berge. Wenn man genau hinschaute, konnte man durch diese hindurch - wie durch einen Schleier - die Umrisse weit entfernter Räume erkennen. Oder war das etwas anderes? Erzene Adern, gigantische Goldklumpen ... In den Grauen Bergen gibt es Gold.
Der dunkel-violette Wald kam näher. Schon konnte Viktor die Form der Blätter ausmachen; sie waren schmal, scharf und unnatürlich gleichförmig, fast so, als ob diese Bäume hier keine Jahreszeiten kannten, kein Abwerfen des Laubs und keine Erneuerung.
»Hausherr!«, rief Viktor. Da der Dickwanst nicht erschien, beschloss er, zumindest den Schein der Höflichkeit zu wahren. »Erwartest du jemanden?«
Keine Antwort. Aber er hatte keinen Zweifel, der andere würde auftauchen. Vielleicht beobachtete er ihn schon. Wartete noch auf etwas, auf den richtigen Moment ...
Die Wiese aus Riedgras war zu Ende, unter den Füßen spürte er jetzt weiches Gras. Viktor beschleunigte seinen Gang und trat unter das violette Dach des Waldes.
Nichts Ungewöhnliches. Ein normaler Wald, nur violett. Aber sonst ... die Luft war frisch, lebendig, es herrschte Stille ...
Nein. Die Stille hatte etwas Vorsätzliches. Es war zu still. In einem lebendigen Wald gab es immer irgendwelche Geräusche, Rascheln, Bewegung. Aber dieser hier schien zu schlafen.
Viktor ging weiter. Er hatte keine Angst, sich zu verlaufen; wie auch, es war doch nur ein Traum. Dennoch ... Irgendwas begann ihn zu bedrücken. Er konnte es nicht sehen,
Er schüttelte sich. Was sollte das alles! Es gab hier zwar keine Sonne, aber es war trotzdem hell! Weit und breit keine Monster und keine Magier. Woher rührte nur seine düstere Vorahnung?
Mehrmals hatte er das Gefühl, dass etwas in seinem Rücken raschelte. Viktor blickte sich um, aber der violette Wald war menschenleer. Offenbar handelte es sich wirklich nur um ein Gefühl ... Und als die Bäume nun weniger dicht standen und er auf eine Lichtung gelangte, konnte er einen Seufzer der Erleichterung nicht unterdrücken.
Auf der Lichtung stand ein kleines Haus. Kein Lagerhaus wie das an der Küste, sondern ein gewöhnliches Holzhaus mit einem Schieferdach und einer grün gestrichenen Veranda, von der die Farbe abblätterte; an den Fenstern hingen weiße Vorhänge.
Viktor musste lachen, denn einerseits wirkte dieses Häuschen im violetten Wald völlig unpassend, und andererseits wurde ihm bei seinem Anblick ganz leicht ums Herz. Hier würde der dicke Alchimist ja wohl kaum wohnen. Gott sei Dank! Auf Scheusale wie den konnte er gut verzichten! Zum Hals hingen sie ihm raus!
Viktor ging auf die Tür zu, streifte seine Füße sorgfältig auf der Fußmatte ab und klopfte. Keine Antwort. Er schob die nicht verschlossene Tür auf, die leise quietschte. Die Veranda war leer, nur eine Hängematte schaukelte sanft zwischen den Wänden.
»Ist jemand zu Hause?«
Das schien neuerdings seine Lieblingsfrage zu sein.
Stille.
So schien die Lieblingsantwort zu lauten.
Viktor betrat die Veranda. Öffnete eine zweite Tür, blickte hinein und sah ein großes reinliches Zimmer. Darin stand ein kleiner Holzofen, wie man ihn in Datschen findet; ferner ein Tisch mit einer bunten Wachstuchtischdecke darauf und einem Holzuntersetzer, auf dem eine dampfende Pfanne mit Bratkartoffeln und Pilzen stand; daneben befanden sich Gläser mit Milch und ein Krug sowie in dicke Scheiben geschnittenes Brot. Es machte den Eindruck, als ob die Bewohner gerade erst den Raum verlassen hätten.
Aber wohin waren sie gegangen? Es gab noch ein weiteres Zimmer, in dem sich zwei ordentlich gemachte Betten und außerdem ein von innen verschlossenes Fenster befanden. Für alle Fälle sah Viktor unter den Betten und im Schrank nach, in dem nichts als schlichte Kleidungsstücke und weiße Wäsche zu finden war.
»Wo seid ihr alle?«, fragte er und hoffte noch immer auf eine Antwort. »He! Ich bin kein Räuber, kein Dieb! Hallo, ihr Leute!«
Stille. Dampf stieg von der Mahlzeit auf dem Tisch auf, die Hängematte schaukelte. Eine Idylle. Lass dich nieder und lebe. Hier ist keiner mehr.
Und es wird auch keiner kommen.
Plötzlich spürte Viktor, dass das Haus tot war. Getötet. Eine leere Schale, aus der das Leben nachlässig rausgezerrt worden war. Und mit dem violetten Wald war es ebenso. Und mit den gläsernen Bergen. Diese Welt war tot, sie hatte sich in eine grenzenlose Wüste verwandelt. Dies waren alles nur Hinweise für ihn. Er würde nicht mehr aufwachen.
»Nein«, flüsterte er, »das will ich nicht!«
Er lief zur Tür und stieß beinahe gegen den Alchimisten, der in diesem Moment eintrat. Viktors Freude über den Anblick des rotgesichtigen Kerls war so gewaltig, dass er den anderen um ein Haar umarmt hätte.
»Wohin?«, fragte jener und blickte sich eindringlich im Zimmer um. »Heiße Kartoffelpfanne ... na komm, mach Platz ...«
Er schob Viktor beiseite und stampfte zum Tisch. Setzte sich auf einen jämmerlich ächzenden Stuhl und begann geradewegs aus der dampfenden Pfanne Pilze und Kartoffeln in seinen gewaltigen Mund zu schaufeln.
»Uh ... omm ... etz ich ...«
»Was?«
»Komm! Setz dich!«, wiederholte der Alchimist, während er kaute. Auch aus seinem Mund stieg Dampf auf. »Ein herrliches Leben, nicht wahr?«
Viktor schwieg.
»Warum mögt ihr Menschen die Einsamkeit eigentlich nicht? Hä?«
Wieder schaufelte er sich eine Handvoll in den Mund. Die Pfanne leerte sich.
»Wie heißt du?«, fragte Viktor.
»Und was nützt dir mein Name? Was willst du damit? Nenn mich, wie du willst ...«
Der Dicke setzte den Krug an und trank Milch in großen Schlucken. Weiße Rinnsale liefen über sein von einem Adernetz überzogenes Gesicht und befleckten sein ohnehin schon schmutziges Hemd.
»Ich werde dich Fresssack nennen.«
Der Dicke lachte zufrieden und schluckte glucksend die Milch. Dann schleuderte er den Krug von sich, der wie durch ein Wunder heil blieb, aber auf dem Boden sammelte sich eine kleine Pfütze von der restlichen Milch.
»In Ordnung, nenn mich so. Fressen tue ich wirklich gerne.«
»Warum ist hier niemand?«
Der Fresssack lachte wieder los. »Nein, ich versteh’s nicht! Ich verstehe euch Menschen einfach nicht!«
»Und du, was bist du für einer?«
Aber der Fresssack fuhr fort, sich lustig zu machen. »Wenn du in einer Blechbüchse auf Mutter Erde fällst, dann versteh ich, dass du dir da in die Hosen machst. Und wenn du in einer Metallschachtel sitzt und in eine andere hineinfährst und dabei verbrennst - das ist nicht angenehm. Nein, dafür hab ich wirklich Verständnis! Aber wovor muss man sich hier bitte fürchten? Hä? Du gehst durch ein Wäldchen, freust dich an den Blättchen, kommst an ein Häuschen, alles steht für dich bereit ... setz dich, iss und schlaf dich aus ... Aber du springst mir fast an den Hals! Merkwürdig seid ihr, sehr merkwürdig ...«