»Was hat das alles zu bedeuten?«
»Was willst du? Forderst du eine Antwort von mir?«
»Was geht hier vor?« Viktor hob die Stimme. Der Dicke stieß den Stuhl nach hinten und erhob sich. Finster blickte er Viktor an. Aber der wurde bereits von einer Welle des Zorns übermannt. »Ich frage dich!«
»Aber du musst bitten!«, sagte der Fresssack gedehnt und machte eine ironische kleine Verbeugung. »Bitte mich ...!«
»Du Hanswurst!« Viktor machte eine Bewegung mit der Hand. Und wunderte sich keineswegs, als eine glitzernde hellblaue Peitsche aus seiner Handfläche schoss - genau
»Ach ... ach ...«, stöhnte der Fresssack und fasste sich mit den Händen an die durchbohrte Brust. »Du hast ... mich getötet ...«
Seine Stimme wurde schwächer, er schwankte und schien jeden Moment über dem Tisch oder auf dem Boden neben der Milchpfütze zusammenzubrechen.
»Das wollte ich nicht ...« Viktors Zorn verrauchte. Das Bewusstsein, dass der Fresssack jetzt sterben und ihn allein in dieser schrecklichen, leblosen Kulisse zurücklassen würde, überstrahlte alles. »Ich ...« Er stürzte auf den Zwerg zu, nicht um ihm zu helfen, sondern um neben ihm zu sterben, falls ...
»Hahaha!« Der Fresssack schüttelte sich vor Lachen. »Ausgezeichnet!«
Viktor heftete den Blick auf die beiden Handflächen, die der andere ihm entgegenstreckte, und erstarrte. Kein Blut, und auch auf dessen Brust war keine Wunde zu sehen. Sogar das schmutzige Hemd war völlig unversehrt.
»Du Ekel ...«
»Nein, was für ein Spaß, nicht wahr?« Der Zwerg war kein bisschen verärgert, sondern strahlte vor Begeisterung. »Ich sehe, du enttäuschst mich nicht, mein Freund!«
Eine schwere Hand schlug Viktor auf die Schulter, auch wenn der Fresssack sich dafür auf die Zehenspitzen stellen musste.
»Aber du bist noch zu langsam«, erklärte der Dicke. »Nein, ich verstehe schon, dort ist es kein Zuckerschlecken für dich, und dann machst du endlich die Äuglein zu und hast hier wieder keine Ruhe ... Trotzdem, denk dran. Die
Alles überzog sich mit einem Schleier. Zum ersten Mal spürte Viktor den Moment des Aufwachens nicht unvermittelt, nicht wie einen zielstrebigen Übergang vom Schlafen zum Wachen, sondern wie einen langsamen Prozess. Als ob er gezogen würde ... von einer Welt in die andere, durch einen zähflüssigen Sirup ...
»Viktor ...«
Er öffnete die Augen.
Die Sonne stand bereits hoch. Er hatte einen guten Platz ausgesucht, denn durch das Laub drangen nur vereinzelte Lichtstrahlen. Das Feuer war runtergebrannt, vom verkohlten Holz stieg nur noch ein Rauchfaden auf. Sein Körper hatte gänzlich aufgehört zu schmerzen.
Neben ihm kauerte Tel. Im kurzen weißen Rock und weißer Bluse. Ordentlich gekämmt. Auf ihren Nägeln glitzerte frischer Goldlack. Wo, bitte schön, zog sie sich um und machte sich so zurecht?
Viktor streckte sich ihr schweigend entgegen und fasste ihre Hand. Er begriff sehr wohl, dass die Situation grenzenlos zweideutig war ... oder besser gesagt, eindeutig; und zwar noch viel mehr als ihr Toben ums Lagerfeuer oder das vorgetäuschte Stöhnen im Zugabteil. Jetzt war er völlig nackt. Und trotzdem hatte seine Berührung keinen Hauch von Erotik an sich. Sie entsprang dem einfachen Wunsch, die Gegenwart eines lebendigen Wesens zu spüren.
»Hat es dich schwer erwischt?«, fragte Tel leise und mit ehrlicher Reue.
»Sieht man das nicht?«
»Nein.«
Viktor blickte auf seine Schulter. Es war nicht die kleinste Spur eines Blutergusses zu erkennen. »Ich hatte wieder einen schrecklichen Traum.«
Tel nickte, als verstünde sie ihn.
»Dreh dich um, damit ich mich anziehen kann«, bat Viktor. Tel drehte sich gehorsam um. Viktor stand auf und merkte leicht verwundert, dass seine Erschöpfung ebenso wie alle Prellungen und Schürfungen verschwunden war. Wie gut das Schlafen an der frischen Luft tat!
Er schlüpfte in die Jeans, und erst daraufhin fühlte er sich berechtigt, die nächste Bemerkung zu machen. Oder zumindest seine Gekränktheit zum Ausdruck zu bringen.
»War das nötig?«
»Was?«, fragte Tel, ohne sich umzudrehen.
»Mich einer Gruppe wahnsinniger Magier zum Fraß vorzuwerfen? Erst dort am Fluss ...« Viktor redete sich in Rage. »Weiß du eigentlich, was da los war? Wie ich da rausgekommen bin? Warum hast du das überhaupt alles angezettelt, Tel? Damit ich unter ökologisch einwandfreien Bedingungen sterbe? Ich würde lieber in einer dreckigen Stadt leben! Denkst du, ich bin dein Spielzeug? Eine Plüschmaus zum Aufziehen? Wenn du magst, dann spielst du mit ihr, und wenn du keine Lust mehr hast, lässt du sie an der nächsten Ecke liegen? Na? Was schweigst du, Mädchen?«
»Die Strömung hat mich fortgetragen, Viktor. Ich konnte nichts dagegen tun. Ich habe dir alle meine Kräfte überlassen.«
Viktor schwieg.
»Das ist eine Etappe. Die erste Initiation. Der Weg zur Kraft. Wenn du ihrer nicht würdig bist - kann er tödlich enden. Aber selbst wenn du ihrer würdig bist, ist die Gefahr groß. Ich habe dir geholfen, so gut ich konnte ...«
Zerstreut bewegte Tel den Finger durch den Sand und malte irgendwelche Buchstaben. »Ich hatte nie Angst vorm Schwimmen. Aber diesmal wäre ich fast ertrunken ...«, fuhr sie fort. »Du solltest die Kraft des Wassers erfahren, sie in dich aufnehmen und sie bezwingen. Nicht einfach nur den Feind abwehren, das hätte ich auch gekonnt ... du musstest das Wesen ihrer Magie erfassen. Die Grundlage der Grundlagen. Die Zielstrebigkeit der Ströme, die sich aus gebirgigen Höhen hinabstürzen; den verwegenen Flug der Regentropfen, die auf heißen Sand prasseln; das ruhige Gewicht der Ozeantiefen, die Kraft der Sturmwellen ... Und das hast du getan. Du hast es selbst getan. Aber erst musstest du gegen sie bestehen. Standhalten. Praktisch ohne über irgendetwas zu verfügen. Daher gab ich dir alles, worüber ich verfüge ... meine Widerstandskraft und eine gewisse Macht über das Feuer ...«
Sie verstummte.
»Verzeih.« Viktor setzte sich neben sie. »Tel ...«
Nein, das Mädchen weinte nicht. Sie blickte mit leeren Augen vor sich hin und schrieb wundersame Runen in den gehorsamen Sand.
»Für mich ist es auch schwer ...« Es war nicht klar, ob sie sich beklagte oder es einfach nur eingestand. »Du kannst nicht verstehen, wie schwer. Du hast wenigstens das Recht, nichts zu wissen. Ich habe geglaubt, dass du es schaffst. Damals, gleich nach dem Übergang ... habe ich dich geprüft. Du hast auf alle Kräfte angesprochen, schwach zwar - aber immerhin. Das heißt, du hast die Kraft, gegen sie zu bestehen. Nur dass es mir nicht gelingen will, mich nicht einzumischen. Das ist dumm ...«
»Tel ...« Viktor nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände. Vorsichtig, wie die Wächter der Grauen Grenze eine tote
»Sag das nicht!«, erwiderte Tel streng. »Sag das niemals! Eure Welt ist nicht schlechter als unsere, und unsere ist nicht besser als die der Angeborenen. Wenn du ... anfängst so zu denken ... dann hast du nur noch einen Weg!«
»Schön, schön.« Viktor legte ihr einen Finger an die Lippen. »Ich tue es nicht mehr. Reg dich nicht auf. Ich bin verwirrt, müde und erschrocken. Deshalb rede ich solchen Unsinn. Ich suche einen Schuldigen. Ich werde es nicht mehr tun.«
Er verstummte. Tel und er blickten sich in die Augen. Es schien, als müsste er noch etwas sagen ... nein, nicht sprechen ... nur nicht den Blick abwenden ... sich verlieren in diesem bodenlosen durchsichtigen Blau ...
»Wahrscheinlich bist du schrecklich hungrig«, bemerkte Tel leise, während sie ihren Kopf aus seinen Händen löste. »Ja? Ich habe etwas zu essen mitgebracht ... ein wenig ...«