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Der Zauber verging.

Viktor lachte erleichtert auf. »Du bist wirklich vorausschauend. Denn im Moment könnte ich jeden aufessen, der gerade vorbeikommt.«

»Also, ich schmecke nicht gut!«, protestierte Tel und sprang auf die Beine. »Nein, bloß nicht! Ich habe doch einen ganzen Korb Piroggen dabei.«

»Aber du hast ja gar kein rotes Käppchen auf.«

Tel verstand ihn anscheinend nicht. Sie beugte sich über den Korb, der neben dem verglimmenden Feuer stand, und Viktor begann, interessiert das andere Flussufer zu beobachten.

»Hier Piroggen mit Kartoffeln, mit Fleisch und mit Kohl ...«

»Großartig. Ich hatte schon daran gedacht, Fische zu fangen oder Algen zu probieren.«

»Ich habe mal gehört, dass ein Mann sich zwei Jahre lang von Schlamm ernährt hat ... aber wir haben so was Widerwärtiges zum Glück nicht nötig ... Das Essen ist angerichtet!«

Viktor zog sich das Hemd über den Kopf und setzte sich neben den Korb. Tel hatte die Piroggen auf einem weißen Tuch ausgebreitet und blickte ihn mit stolzer Erwartung an. Außer den Teigtaschen gab es noch eine Flasche Wein, zwei kleine Weingläser, ein in ein Wachspapier gewickeltes Stück gebratenes Fleisch und mehrere hartgekochte Eier; letztere wirkten wie ein kulinarischer Gruß des von Viktor heiß geliebten Ministeriums für Verkehrswege.

»Wein, das ist ja toll!«, sagte er. »Du bist ein kluges Mädchen, aber wozu zwei Gläser?« Der Tonfall eines strengen Vaters gelang ihm nicht.

»Weil ich auch einen Schluck trinken will.«

»Na gut, ich erlaube es dir«, stimmte Viktor eilig zu und fühlte sich wie ein umsichtiger König im Märchen. »Ich habe es jedenfalls bitter nötig. Nach dieser Geschichte am Bahnhof ...«

»Was für eine Geschichte?«

»Über mich ist noch eine Mörderbande hergefallen. Am Bahnhof von Chorsk. Ich weiß selbst nicht, wie ich davongekommen bin ...«

Tels Hand, die sie soeben nach den Gläsern ausgestreckt hatte, fing an zu zittern. »Erzähl.«

»Weißt du das etwa nicht?« Viktor war davon ausgegangen, dass Tel wie immer bestens über alle Ereignisse informiert

»Was da passiert ist, weiß ich. Ich habe mit den Gnomen gesprochen.«

»Also, sie haben mich in den Zug gesetzt, in den Weißen Adler ...«

Viktor erzählte, was ihm im Laufe der vergangenen Stunden zugestoßen war, und Tel hörte schweigend zu und wich immer länger seinem Blick aus. Er beschrieb den Wahnsinn, der den Waggon erfasst hatte, und wie sich ihm die Chance zur Rettung bot; er berichtete von dem fürchterlichen Kampf und davon, wie sich die Magier des Wassers auf die neuen Banditen gestürzt hatten, wahrscheinlich, um ihre Beute nicht teilen zu müssen. Und dann erzählte er, wie er unter Wasser geschwommen war, als er plötzlich feststellte, dass er den Atem unbegrenzt lange anhalten konnte, und wie er schließlich ans Ufer geschwommen und herausgekrochen war ... Nur von seinem Traum erzählte er nichts.

»Und hier hast du mich gefunden ...«

»Was habe ich nur angerichtet ... was habe ich angerichtet ...« Viktor sah mit Bestürzung, dass Tel weinte. »Ich bin so eine Närrin ...«

»Tel!« Viktor umarmte sie und drückte sie an seine Brust. »Na, na, na ... was ist denn, mein Mädchen ... wein doch nicht ... ich bin doch noch am Leben! Es ist alles gut!«

Sie schluchzte und klammerte sich an Viktor. Dann schüttelte sie den Kopf. »Nein ... das meine ich nicht ... Jetzt hast du nur noch einen Weg ... wahrscheinlich ...«

»Was redest du da, Tel?«

»Du sagst, die Leute im Zug wurden buchstäblich tollwütig?«

»Ja ... Was hat das zu bedeuten?«

Tel schwieg.

»Lass das, Tel, ich bitte dich ...«, wiederholte Viktor mit Verzweiflung in der Stimme. »Du bist der einzige Mensch in dieser Welt, der mir nahesteht.«

»Bist du sicher, dass ich ein Mensch bin?« Tel schien kurz davor zu sein, hysterisch zu werden.

»Was das angeht, bin ich mir nicht mal über mich selbst mehr im Klaren. Tel, wein nicht ...«

Das Mädchen schwieg eine Weile, ehe es wieder sprach. »In Ordnung, Viktor. Ich hör schon auf. Und ich werde mir was einfallen lassen ...« Mit einem Ruck löste sie sich, ging zum Wasser und begann sich das Gesicht zu waschen. Dann sagte sie im Befehlston: »Los jetzt, schenk mir endlich Wein ein!«

12

Ritor bezahlte.

Es lag etwas Grauenhaftes darin. Noch vor kurzem hatten die Leute sich im Schmerz die Haare gerauft, vor Verzweiflung gekreischt, weinend über den Leichen ihrer Angehörigen gelegen oder einfach mit leeren Augen ins Nichts gestarrt - was schlimmer war als alles andere.

Jetzt hatte sich vor dem Dienstzimmer des Stationsvorstehers eine lebhaft diskutierende Schlange gebildet. Jeder, der herauskam, wurde neugierig ausgefragt, die Wartenden erkundigten sich nach der Summe und den Einzelheiten des Gesprächs. Einige antworteten, andere nicht, je nachdem, wie ihre seelische Verfassung und ihre Angst vor den Magiern es zuließen.

Ritor bezahlte.

»Den Ernährer, unseren Ernährer habe ich verloren ...« Eine ältere Frau knetete ein Tuch und wischte sich die Tränen damit ab. »Wovon soll ich jetzt leben? Wie soll ich die Kinder großziehen?«

»Ihr Ehemann?«, fragte Ritor leise.

Die Frau stockte. »Mein Vater ...«

»Wie alt war er?«

Auf diese Frage wollte die Leidtragende nicht antworten.

Ritor seufzte. »Und er hat eure Familie unterhalten?«

»Er war ein guter Handwerker! Stiefelmacher!« Die Frau ging sofort zum Angriff über. »Er hat nicht einen Tag ohne Arbeit gesessen!«

»Und Ihr Mann?«

»Ach, ein unglückseliger Trunkenbold ...«

Was konnte man da machen? Ritor zählte schweigend das Gold ab und reichte der Frau eine Quittung über eine nicht allzu hohe Summe. Diese schien noch zu überlegen, ob sie nicht mehr fordern sollte, aber unter Sandras eisigem Blick geriet sie in Verwirrung und verschwand eilig.

»So eine Kröte!«, fauchte Sandra, sobald die Tür ins Schloss gefallen war. »Barrakuda ... soll sie sich doch von Aas ernähren ...«

»Sandra, lass das«, bat Ritor sie. »Ja, sie lügen. Sie schachern mit dem Blut ihrer Angehörigen. Aber was können wir dagegen tun? Sie abweisen? Damit es in unseren Ländern heißt, der Clan der Luft opfert seine Diener?«

»Es ist abscheulich.« Wie immer, wenn sie sehr erregt war, vergaß Sandra jeglichen Jargon. »Auf der Straße sitzen zwei Frauen, sie weinen über ihre Toten und denken nicht einmal an Geld. Und diese hier ... Leichenfledderer ...«

»Geh zu ihnen und zahl ihnen eine Entschädigung aus. Eine ordentliche Summe. Sag ihnen, dass der Clan seine treuen Diener um Verzeihung bittet.«

»Wir werden bald ganz ohne Geld dastehen ...«

»Sandra!«

Die Magierin erhob sich.

»Ich werde einen Kredit bei den Gnomen aufnehmen. Das ist nicht zu ändern. Zahl du diejenigen aus, die nichts

»Da sind noch Kinder«, sagte Sandra unwillig. »Ein Säugling und zwei kleine Mädchen. Alle Angehörigen sind umgekommen.«

»Wir nehmen sie unter die Obhut des Clans. Schick sie zum Spitzzahn. Wenn sie die Fähigkeiten dazu haben, erziehen wir sie zu Magiern. Andernfalls finden wir schon ein Plätzchen für sie.«

»Sollten wir sie nicht lieber ins Heim geben?«

»Nein, dort wachsen sie mit Hass im Herzen heran. Und bei uns voll Dankbarkeit. Ruf jetzt den Nächsten rein.«

Der Nächste aus der Schlange war ein kräftiger, solide gekleideter Bärtiger. Kein Bauer, wahrscheinlich ein Müller oder Schmied. Er verbeugte sich vor Ritor, setzte sich ohne Aufforderung hin und sagte: »Als Erstes meine Frau. Sie war nicht mehr jung, aber noch ganz hübsch und ein Wirbelwind bei der Arbeit. Sie kannte die Wirtschaft; wusste, welches Vieh welches Futter bekommt, was wo liegt ... Hundert Münzen, auf keinen Fall weniger. Die Tochter hatte ich schon als Braut versprochen ... fünfzig. Und für das verloren gegangene Vermögen dreißig, wenn’s recht ist.«