Nikolaj schenkte wieder Bier ein. »Und wie! Und du, sag schon, hast du nie davon geträumt, hier zu landen?«
»Nein. Fantasy habe ich höchstens gelesen, wenn ich nichts anderes hatte. Und an Elfen habe ich auch nicht geglaubt. Tut mir leid.«
»Seltsam.« Nikolaj schüttelte den Kopf. »Normalerweise tauchen vor allem Leute hier auf, die auf der Anderen Seite nicht so richtig klarkommen! Irgendwas in dir hat dich hergezogen. Du hast dein Glück nur noch nicht begriffen!«
Viktor zuckte mit den Schultern. Tel tauchte aus der Kajüte auf und blickte missbilligend zu ihnen herüber, ehe sie einen Eimer Schmutzwasser über Bord kippte.
»Nein, ich bin froh. Sehr froh sogar«, fuhr Nikolaj fort. »Ich hab damals zusammen mit Stepka, einem Kumpel, richtig gutes Gras gekauft ...« Wieder zwinkerte er Viktor zu, als wollte er ihn dazu auffordern, endlich vernünftig zu werden und sich ihm anzuschließen. »Wir haben uns jeder eine Tüte gedreht ... Stepka konnte Tüten drehen, du glaubst es nicht, bei ihm steckte eine ganze Philosophie dahinter. Und dann ging es ab ... ich weiß noch, dass Stepka Lieder sang, solche ... eso... exot... exoterischen Lieder ... seit ich die ganzen schlauen Wörter nicht mehr benutze, vergesse ich sie allmählich ... Dann haben wir uns noch einen Joint reingezogen und noch einen. Irgendwas drängte mich dazu, ihm meine geheimsten Wünsche zu offenbaren. Ich weiß noch, ich hab ihm die ganze Zeit davon erzählt, wie gerne ich in einer echten Welt leben würde! Dann hab ich mich auf den Heimweg gemacht, musste mich vor den Bullen verstecken ... bin in einen Graben gefallen ... na, du weißt ja, wie das wirkt, wenn man zu viel von dem Zeug raucht ... du siehst einen Mast da stehen und lächelst ihn an, denn er ist dein bester Freund! Jedenfalls hab ich mich
Er schwieg eine Weile und sog gierig an seinem Zigarettenstummel. Schließlich beendete er seine Geschichte.
»Nein, ich habe wirklich Glück gehabt! Pures Glück! Die ersten Tage dachte ich, dass ich auf einem Trip wäre, einfach Hallus hätte. Ich habe drauf gewartet, dass einer der Gnome sich in einen Arzt mit Spritze verwandelt und mir erzählt, wie sie mir den Magen ausgepumpt haben. Aber ich hab trotzdem versucht, mich einzuleben. Und irgendwann hab ich kapiert, dass das hier alles echt ist. Was meinst du, wie ich mich gefreut habe!«
»Und was hast du dann getan?«
»Na ja, zuerst habe ich ein Elfenlager aufgesucht. Sie nehmen nicht gerne Menschen auf, aber ich habe sie regelrecht angebettelt ... ich habe ihnen erklärt, dass ich immer davon geträumt habe ... Zwei Monate habe ich bei ihnen verbracht ...« Nikolajs Stimme klang plötzlich wütend. »Aber diese Schweine, diese erstgeborenen, die ganze Drecksarbeit haben sie auf mich abgewälzt! Ich musste Holz hacken, die Zelte saubermachen, ihre Kräuter sortieren, waschen ... Ich hab es wirklich lange ausgehalten. Und abends, wenn die Elfen zur Laute greifen, wenn sie ihre Lieder singen - über Berge und Meere und darüber, wie der Wind singt und die Sterne flüstern ... dann legst du dich in ihre Nähe - ans Feuer darfst du nicht, denn sie sagen, dass wir Menschen riechen - du liegst so da und träumst ... Aber dann ... als ich anfing, einer Elfe den Hof zu machen ... da haben sie mich davongejagt, einfach so. Die Schweine!«
Viktor nickte mitfühlend.
»Also habe ich mir überlegt, was ich noch machen könnte. Ich wollte Soldat werden oder Magier oder was anderes, aber dann tauchte dieser Kahn auf ... ich hatte ein ganz ordentliches Kapital ... Willst du immer noch kein Zigarettchen?«
»Nein, danke.«
»Na, dann genehmige ich mir noch eins ... Wie gesagt, Kapital hatte ich ... denn diese Schweine ist ihre Dreistigkeit teuer zu stehen gekommen. Erst wurde ich Teilhaber, später hab ich den Kahn dann ganz übernommen. Man kennt das ja, ich diente in der Flotte, und da musste ich überhaupt nichts tun. Vor einem Jahr habe ich mich endgültig niedergelassen. Ich hab ein Haus hingestellt! Ein anständiges Holzhaus, mit einem Wellblechdach und einem Ölofen nach Gnombauart. Ich habe eine Kuh - das ist der Hit! Fünf Schweine, eine Ziege. Und geheiratet habe ich auch. Ein ordentliches Frauchen; sie ist zwar Witwe und hat einen Jungen, aber das macht nichts, ich liebe Kinder. Und Haus und Hof sind immer in Ordnung. Das Bier hier ... hat sie selbst gebraut. Und, schmeckt es dir?«
»Sehr gut«, antwortete Viktor. Er begann das hausgemachte Gebräu, das er auf den Wein getrunken hatte, allmählich zu spüren. In seinem Kopf dröhnte es, aber nicht nur das. Er ging zur Bordwand und folgte dem Beispiel des Gnoms.
»So leben wir, ohne uns zu plagen«, fasste Nikolaj zusammen. »Ich hab schon überlegt, einen zweiten Kahn zu kaufen. Wenn du willst, stell ich dich als Kapitän an. Gewissermaßen über Beziehungen ... Hast du dir schon überlegt, was du machen willst?«
»Bei mir ist offenbar schon alles festgelegt«, sagte Viktor, ohne auf Einzelheiten einzugehen.
»Nun ja, wenn sich das Mädelchen da um dich kümmert ...« Nikolaj kniff zufrieden die Augen zusammen. »Das ist gut so, ganz ausgezeichnet. Aber denk dran, ich bin immer bereit, einem Landsmann zu helfen.«
Der Kahn trieb langsam auf eine Brücke zu. Entweder kreuzte an dieser Stelle die Route der Gnome oder eine andere Trasse, das war vom Wasser aus nicht zu erkennen. Am Ufer standen, wie es Brauch war, ein Wachhäuschen, und neben einem melancholisch aussehenden, gesattelten Pferd ragte ein Wächtergnom mit einer Armbrust über der Schulter empor. Viktor winkte ihm freudig zu. Aber Nikolaj schien diese Sympathie nicht zu teilen. Er beobachtete den Gnom mit finsterem Blick, hieb ärgerlich mit der Faust aufs Holzdeck und heulte auf, weil er sich offenbar wehgetan hatte. »Zum Teufel mit ihnen ...«
Viktor hatte keine Ahnung, womit die Gnome der Brückenwache den Kapitän des Kahns so erzürnt hatten. Und er fragte auch nicht. Vielleicht hatten sie Abgaben verlangt. Ein ganzer Zug kleiner Boote kam ihnen entgegen. Sie waren mit weißen Marmorbrocken und Holz beladen. Das Leben in der Mittelwelt brodelte und kochte, es wurden Schlösser und Serails gebaut, dem Leben waren die Unstimmigkeiten zwischen Nikolaj und den berittenen Armbrustschützen völlig gleichgültig.
»Nein, es gibt keine Vollkommenheit auf der Welt, nein ...« Der zweite Joint hatte den Kapitän philosophisch gestimmt. »›Ach ... wenn wundersame Feen unter der Knute der eisernen Blumen stöhnen ...‹«
Viktor wurde unruhig. Wenn der betrunkene Nikolaj jetzt anfing, Gedichte zu rezitieren, würde er das Weite suchen
»He, ihr Trunkenbolde! Kommt! Der Stall ist sauber!«
»Da hast du einen tollen Fang gemacht«, sagte Nikolaj wohlwollend. »Dünn ist sie, und jung, aber sie arbeitet gut. Nein wirklich, da kann ich dir nur gratulieren!«
Im Deckhaus herrschten wahrhaftig Ordnung und Sauberkeit. Tel hatte sogar die Fenster geputzt, und die Sonne, die allmählich am Horizont unterging, spiegelte sich im frisch geschrubbten Boden. Auf dem gescheuerten Tisch stand in einem ausgespülten Glas ein Blumenstängel Schollenkraut. Wann hatte Tel das gepflückt?
»Mann ...« Nikolaj öffnete die Arme. Wahrscheinlich hegte er wie alle echten Faulpelze eine zarte, platonische Liebe für Sauberkeit. »Lass dich umarmen, Mädchen!«
Zu Viktors Überraschung ließ sich Tel vom Kapitän bereitwillig einen nicht allzu väterlichen Kuss auf die Backe drücken. Aus den Augenwinkeln blickte sie zu Viktor hinüber, der sich verärgert abwandte.
»Gut, jetzt bin ich an der Reihe!«, erklärte Nikolaj. Er öffnete den Schrank, stieß einen Pfiff aus - auch da drin war offenbar Ordnung gemacht worden - und holte verschiedene Tüten hervor. »Speck ... vom eigenen Keiler übrigens! Gürkchen, Tomätchen ... ein Hühnchen ... das ich gestern in Chorsk gekauft habe, also noch frisch, aber das muss gegessen werden ... Liköre habe ich keine, tut mir leid, aber Bier und Wodka gibt es genug.«
Gemeinsam deckten die drei den Tisch, und wenig später saßen sie beim Abendbrot. Viktor genehmigte sich noch ein weiteres Glas Bier - das, wie ihm schwante, vermutlich eines zu viel war, denn er fühlte sich ohnehin schon ganz schwer vom Essen und Trinken.