»Du möchtest bestimmt gern wissen, was sich zu Hause so tut?«, fragte er Nikolaj.
»Zu Hause? Na was schon, da ist alles in Ordnung. Meine Frau besorgt den Haushalt, und der Kleine füttert wahrscheinlich gerade die Schweine ...«
»Ich meine auf der Anderen Seite.«
»Ach ... auf der Anderen Seite ...« Nikolaj stürzte noch ein Glas Bier hinunter. »Na, ich weiß nicht. Wozu denn? Zurückkehren würde ich ohnehin nicht, selbst wenn ich könnte. Über meine Verwandten weißt du nichts ... Es wird ja wohl kein Krieg herrschen, oder?«
»Nein.«
»Und sonst?« Der Kapitän dachte nach. »Ist sonst ... irgendwas Interessantes passiert? Haben sie fliegende Untertassen gefangen oder ein Medikament gegen Aids gefunden oder ...«
Er versank wieder in Nachdenken, ehe er mit der Hand abwinkte. »Eigentlich möchte ich nichts wissen, Vitja. Ich will mich nicht mal dran erinnern! Und das rate ich dir auch: Vergiss die Andere Seite einfach! Das hier ist unser Leben! Zum Warmen Ufer bringen wir Weizen und Fleisch, von dort holen wir Fisch und Wein. Die Natur ist voller Wohlgerüche! Die Mädchen ...«, er zwinkerte Tel zu, die ihn zur Antwort anlächelte, »sind verspielt und wunderbar! Bier kostet nur ein paar Groschen! Wenn du krank wirst, gehst du zu einem Magier, der hilft dir besser als jeder Arzt! Wenn es dich zur Zivilisation zieht, dann musst du dich in der Nähe der Eisernen Route niederlassen; von den Gnomen bekommst du heißes Wasser und sogar Elektrizität. Ich zum Beispiel habe vor, ein geheiztes Klo einzubauen. Wenn das kein Paradies ist? Na?«
»Soweit ich weiß, gibt es hier Kriege«, bemerkte Viktor.
»Ha! Kriege! Jedenfalls weniger als bei uns! Und die Steuern sind, wenn man sich auskennt, völlig human. Und dass ein Bulle ... mit einem Gummiknüppel ...« Nikolaj seufzte auf. »Niemals! Nicht mal die Elfen ... auch wenn sie Mistkerle sind. Ganz egal. Und seit ich vermögend bin, heuere ich sie einfach ab und zu mal an. Dann kommen sie mit ihren Lauten und Schalmeien, setzen sich in den Garten und singen. Und ich mach es mir auf der Veranda gemütlich und lass mir Bier und Speck schmecken!«
Sie saßen noch eine halbe Stunde so da. Nikolaj schenkte sich fleißig Bier ein und malte Viktor die Vorzüge der Mittelwelt in allen Farben aus. Tel lächelte nur spöttisch. Viktor selbst schwieg die meiste Zeit.
Dieser Kerl, sein Landsmann, hatte irgendwie etwas Trauriges an sich.
Nein, wenn er wirklich den Elfenfrauen nachgestellt hätte, oder mit den Gnomen auf der »Eisernen« arbeiten würde oder versuchte, ein Magier zu werden ... Wahrscheinlich könnte sich Viktor dann für ihn freuen. Aber diese Art, seine Träume zu verwirklichen, indem man eine Elfentruppe anheuerte und beim Bier ihrer Musik lauschte ... Bedeutete das am Ende, dass alle, die von der Anderen Seite in die Mittelwelt gelangten, bei Tageslicht besehen längst nicht so begeistert von Zauberei und Wunderwerken waren, wie sie selbst es immer geglaubt hatten? Es war eine Sache, sich eine Welt voller Magier vorzustellen, aber eine ganz andere, wenn man versuchen wollte, in ihr zu leben.
»Na schön, ich glaube, wir müssen jetzt schlafen gehen«, sagte Viktor. »Benötigen wir hier an Bord Nachtwachen?«
»Nichts da!« Nikolaj klopfte auf das Bierfässchen. »Ich stelle nur das Steuerrad fest, die Strömung trägt uns sowieso von selbst ... die ganze Arbeit besteht darin, aufzupassen, dass wir nirgends leckschlagen. Komm, trinken wir noch eins?«
Viktor schüttelte den Kopf.
»Na, dann haut euch aufs Ohr. Ich geb euch noch’ne Matte ...« Leicht schwankend stand der Kapitän auf und holte eine eng zusammengerollte Bastmatte aus dem Schrank; nach kurzem Zögern legte er noch eine schmutzige Wolldecke obendrauf. »Was ich hab, das geb ich gern ... na, macht es euch auf Deck bequem ...«
»Danke dir.« Insgeheim hegte Viktor die Befürchtung, dass Nikolaj Tel vorschlagen würde, mit ihm die Kajüte zu teilen. »Wir sind da vorne am Bug, ja?«
»Fallt nur nicht ins Wasser. Ich werd noch ein wenig hier sitzen.«
Als sie schon in der Tür waren, rief Nikolaj ihnen noch hinterher: »Wenn ihr nicht schlafen könnt, kommt einfach zurück ...«
Viktor war nicht ganz klar, an wen dieses indirekte Angebot in erster Linie gerichtet war. In der immer dichter werdenden Dunkelheit rollte er die Bastmatte an Deck aus. Sie versprach keinen besonderen Komfort, aber immerhin ... Er zog Jacke und Pullover aus, rollte sie zusammen und legte sie auf das eine Ende der Matte.
»Statt Kissen.«
»Mhm.« Tel setzte sich auf den Rand der Matte und streckte die Beine aus. »Ich bin wirklich müde. Danke. Ich hatte schon Angst, dass du bis zum Morgen mit diesem ... Nikolaj sitzen würdest ...«
Viktor lachte. »Warum, hat er dir nicht gefallen?«
»Ein Schmutzfink«, sagte Tel verächtlich. »Und ein Saufbold.«
»Warum hast du dich dann von ihm küssen lassen?« Viktor konnte sich die Frage nicht verkneifen.
Tel lachte. Dann fragte sie lauernd: »Bist du eifersüchtig?«
Viktor schnappte nach Luft vor Empörung. »Was? Tel ... also ... du bist ... nicht so ganz mein Geschmack, und außerdem ... bist du noch zu jung.«
»Was heißt, nicht dein Geschmack?«
»Ich bevorzuge blonde Frauen.«
»Puh ...« Tel schüttelte den Kopf. »Wie gewöhnlich. Ich dachte, du hättest mehr Stil.«
»Das geht dich nichts an ...« Viktor schwieg eine Weile und blickte verlegen zu Tel hinüber. Dann lächelte er. »Schon gut. Ich gebe mich geschlagen! Tel, mir war es wirklich unangenehm, dass dieser Kapitän dich immer so wohlgefällig angesehen hat.«
»Du bist eifersüchtig«, seufzte das Mädchen. »Heißt das, dass ich Chancen bei dir habe? Wenn ich älter bin und mir die Haare färben lasse?«
»Das hängt von deinem Benehmen ab.«
»Ich werde mich sehr anstrengen«, sagte Tel in einem Ton, der wenig Anlass zur Hoffnung gab. Sie streckte sich auf der Matte aus und schob sich Viktors Pullover und die eigenen Handflächen unter den Kopf.
Ein Kahn kam ihnen entgegen - bauchig und mit einem niedrigen Aufbau am Bug. Daneben standen ein Junge und ein Mädchen ... vermutlich nur wenig älter als Tel. Der Junge winkte zu ihnen hinüber.
Viktor machte leise »Hm« und winkte unsicher zurück. Er folgte dem Kahn mit seinen Augen und wunderte sich erneut darüber, wie genau voneinander abgegrenzt die gegenläufigen
»Ich würde wohl nicht darauf bestehen, dass du dir die Haare färbst«, sagte Viktor. »Hörst du mich, Tel?«
Tel hatte den Kopf in das improvisierte Kissen gedrückt und schlummerte friedlich. Viktor seufzte, deckte sie mit der Decke zu und stand noch eine Weile neben ihr. Das Mädchen musste wirklich erschöpft sein, dass es so schnell eingeschlummert war. Und er hatte sich wie ein egoistischer Klotz benommen und sie nicht einmal gefragt, wie es ihr ergangen war, wie sie ihn am Fluss gefunden hatte ...
Er streckte sich auf dem freien Rand der Matte aus und starrte lange mit geöffneten Augen in den Himmel, der inzwischen in einem Sternengewirr explodierte, und auf die Kronen der Bäume, die entlang des Flussufers in die Höhe ragten. Er lauschte dem Plätschern der Wellen. Was trieb ihn vorwärts? Was suchte er in Oros? Und wozu brauchte er die Clans und ihre Magier? Könnte er nicht doch hier irgendwo ein Plätzchen finden und sich niederlassen? Was war denn eigentlich so schlimm an Nikolajs Weg? Morgen würde er Tel sagen, dass er nirgendwohin mehr reisen wollte. Er würde beim nächsten Städtchen von Bord gehen. Er verfügte über gewisse Kräfte und würde sich schon zu wehren wissen, falls ihm noch mal eine Gruppe verrückter Magier an die Kehle wollte ...
Nachdem er diesen beruhigenden Entschluss gefasst hatte, schlief Viktor ein.
Das Merkwürdigste war, dass er schon gänzlich aufgehört hatte, sich über irgendwas zu wundern. Ein weiteres Mal befand er sich inmitten der durchsichtigen Berge, des violetten Walds und der verkohlten Überreste des Laboratoriums.