»Bietest du mir ein Fahrzeug an?«
»Dir?« In gekünsteltem Schrecken wedelte der Fresssack mit den Händen. »Wie könnte ich! Ausgerechnet dir! Wo du doch jetzt selbst ...«
Er breitete die Arme aus, ließ ein surrendes Geräusch erklingen und hüpfte dabei von einem Fuß auf den anderen, so dass er an ein überladenes Transportflugzeug beim Start
»Ich bin kein Kind mehr, das im Traum fliegen kann.«
»Versuch es nur!«, ermutigte ihn der Fresssack. »Du konntest gegen die Luft bestehen, aber du fürchtest dich davor, abzuheben?«
Jetzt benahm er sich wie ein Sergeant in einem amerikanischen Kriegsfilm. Scheinbar böse, aber im Grunde natürlich sehr gutmütig. So einer, der weiß, dass es für die Soldaten nur zum Besten ist, die ganze Nacht die Kaserne zu putzen oder sich auf dem von der Sonne ausgemergelten Exerzierplatz abzustrampeln.
Während er den Fresssack noch fragend ansah, spürte Viktor plötzlich eine Art Versuchung. Könnte er fliegen? Warum eigentlich nicht? Im Traum ... Er kannte das Gefühl zu fliegen ja bereits, aus jenen wahnsinnigen Erinnerungen eines anderen, aus den Schwären eines fremden Gedächtnisses. Wenn auch vermischt mit Angst, denn hinter ihm flog ein feuerspeiendes Ungetüm ...
Langsam breitete Viktor die Arme aus und sah aus den Augenwinkeln, wie der Fresssack grinste.
So nicht! Benimm dich nicht wie ein LSD-Junkie! Und stell dir kein Flugzeug vor!
Flieg einfach los!
Er streckte sich dem niedrigen, schwach glitzernden Himmel entgegen. Dem trüben Dunst, der sich wie eine Kuppel über die Welt wölbte.
Er erlaubte der Luft, ihn in die Höhe zu heben.
Der Fresssack fluchte - tief unter ihm. Auf seinem Gesicht zeichnete sich eine Grimasse des Zorns ab.
Viktor flog.
Sein Körper lag auf einer unsichtbaren Stütze. Auf einer unendlichen, unsichtbaren Stütze, die sich über das Ufer und den Wald erstreckte, die Berge umwob und das Meer überspannte. Er lag auf einer Brücke aus Luft, die von den Grauen Bergen bis zum Warmen Ufer reichte, auf der unvorstellbaren Macht des Elements.
Er spürte jede Bewegung der Luft. Den Hurrikan, der über dem Meer tobte und das Segel einer glücklosen Corvette in Fetzen riss ... Den Tornado, der mit seinem gierigen Rüssel fragile Häuschen zerfetzte ... Den Sandsturm, der sich wie ein glühendes Leichenhemd über eine Karawane legte ...
Die Luft schaukelte ihn sanft, trug ihn über den Wald. Gehorsam, beherrscht, zu allem bereit.
Viktor lachte auf, so leicht und märchenhaft war dieser Flug. Er war eins geworden mit dem Ozean der Luft. Wenn auch nur im Traum. Wenn auch nur für einen Augenblick.
Der Fresssack war am Ufer zurückgeblieben und wütete weiter vor sich hin. Jetzt stampfte er mit den Füßen auf wie ein verwöhntes Kind, und dann packte er in einem neuerlichen Wutanfall einen halb von Sand verschütteten Findling und schleuderte ihn aufs Meer hinaus. Oho, was für eine Kraft ...
Viktor dachte gar nicht darüber nach, was er tat. Er streckte sich übers Meer nach dem Findling aus, der schon fast ins Wasser getaucht war, spürte die aufs Ufer zurollende Welle - die gespannte, an dieser Stelle zerbrechliche Kraft. Und dann gab er dem Stein einen Stoß. Dieser erzitterte und flog zurück. Er plumpste dem Fresssack direkt vor die Füße, so dass dieser mit einem lächerlichen Sprung zur Seite hüpfte. Na also ...
Die Luft trug Viktor immer weiter. Die verwahrloste Lichtung mit dem verlassenen Haus zog vorbei. Einen Moment lang war er versucht, dort zu landen und nachzusehen, ob die Bewohner nicht vielleicht zurückgekommen waren; augenblicklich verlor er an Höhe.
Aber nein. Vorwärts. Was hatte der Fresssack gesagt?
Weißer Rauch?
Weiter vorne, am Fuße eines Berges rauchte es wirklich. Allerdings nicht weiß, sondern schwarz, grau und graublau, als ob Müll auf einer Müllkippe verbrannt würde.
Viktor beschleunigte sein Tempo, was sich als unerwartet einfach erwies; er spürte keinen Gegenwind. Die Luft wich vor ihm zurück, sie trug ihn zu den Rauchsäulen ...
... der fröhlichen, glühend heißen Zugluft entgegen, welche die Flamme anheizte ...
Er spürte einen Schmerz. Einen scharfen Schmerz, der seinen Körper wie eine Nadel durchdrang. So setzte das Herz aus, wenn es von einer Welle des Grauens und des Ekels erfasst wurde, beim Anblick von etwas ... für das Auge Unerträglichem ...
Der rauchige Dunst hing jetzt ganz nah vor ihm. Und er konnte schon erkennen, was brannte.
Eine Stadt.
Er sah rußige, etwas schiefe Häuser. Nicht solche, wie sie in der Mittelwelt üblich waren, sondern »andersseitige«. Stacheln aus Beton, die auch in das Straßenbild einer amerikanischen Megapolis gepasst hätten. Daneben Viertel mit Einfamilienhäusern, die vom Feuer bis auf die Fundamente ausgeleckt waren. Einen geometrisch angeordneten Wohnkomplex, haargenau nach russischem Vorbild: eintönige Wohnblöcke, die sich mehr in die Länge denn in die Höhe ausdehnten. Unebener, löchriger Asphalt. Einen
Viktor landete auf einer der Straßen. Der Asphalt fühlte sich weich und klebrig an und wies zwei Streifen gerippter Abdrücke auf, die verdächtig an die Spuren von Panzerraupen erinnerten. Die Abdrücke endeten an einem Gebäude, das sich gefährlich zur Seite neigte, inmitten von Glasscherben, die von den Fenstern herrührten.
Herr im Himmel, was war hier passiert?
Er tat einen Schritt und spürte, wie sich um ihn herum der Kokon aus Luft anspannte. Wie ein unsichtbarer Panzer, der ihn vor Hitze und Ruß schützte ... In den Häusern knackten die letzten Brandherde; offenbar war bereits fast alles verbrannt, was brennen konnte. Aus der Wand eines schon fast ganz eingestürzten fünfstöckigen Hauses ragte ein zusammengedrücktes, angeschmolzenes Rohr heraus. Die schwächliche Krone der blauen Flamme lag in den letzten Zuckungen - die Gasreste, die herausströmten, waren nicht mehr in der Lage, das Feuer am Brennen zu halten.
Viktor bewegte sich wie verzaubert vorwärts.
In den Ruinen eines anderen fünfstöckigen Gebäudes knackte etwas; es war ein schwaches, nicht sehr beängstigendes Geräusch, wie wenn ein Erwachsener aus Versehen auf ein Spielzeug aus Plastik tritt oder wenn trockene Äste im Wald brechen. Die Wand, die Viktor zugewandt war, erzitterte, fiel in sich zusammen und offenbarte das leere, entweder von einer Explosion ausgehöhlte oder ausgebrannte Innere des Gebäudes. Auf den Überresten der Trägerdecken, etwa auf Höhe des dritten Stocks, wurde ein
Unwillkürlich hob Viktor seinen Arm; irgendetwas an diesen Überbleibseln forderte ihn heraus, machte sich lustig über ihn. Die gespannte Faust des Windes ging auf die Ruine nieder und entfachte das Feuer im Zimmer neu, das glühend heiße Metall des Bettes loderte auf wie in einem Schmiedeofen, durchlief nacheinander alle Glühfarben, ehe es in einer Flammenpfütze zerschmolz.
Hinter sich vernahm Viktor ein leises Geräusch. Er drehte sich um.
Mitten auf der Straße stand ein Hund. Ein großer Hund, ein Dobermann oder ein Rottweiler, mit gefletschten Zähnen und einem blutenden Rückgrat. Die einst vermutlich gut genährte und mächtige Hündin war in einem schrecklichen Zustand. Sogar ihr weit geöffneter Rachen hatte nichts Furchteinflößendes mehr, sondern wirkte jämmerlich und bettelnd: Dieser Hund drohte nicht, er versuchte nur auf sich aufmerksam zu machen.
Viktor ließ sich in die Hocke nieder. Er streckte die Hand aus und blickte der Hündin in die Augen.
Diese machte einen unsicheren Schritt nach vorne und versuchte mit ihrem Schwanzstumpf zu wedeln.
»Ist es schlimm?«, sagte Viktor mit gedämpfter Stimme. »Komm her. Guter Hund. Guter Hund ...«
Die Hündin winselte leise. Dann drehte sie sich um und lief eilig davon.
»Du traust mir nicht?«, rief Viktor ihr hinterher. »An deiner Stelle würde ich auch niemandem mehr trauen ...«
Wieder fiel ein Gebäude in sich zusammen, diesmal sehr viel lauter. Eine Wolke aus Staub, Abfall und Ruß machte sich breit, aber Viktor blieb davon unberührt, denn sie prallte an den Rändern seines Luftkokons ab.