»Und, hast du genug gesehen?«
Der Fresssack stand hinter ihm. Er atmete schwer und wischte sich den Schweiß von der glänzenden Visage. Es war ihm offenbar nicht leichtgefallen, Viktor einzuholen.
»Wovon?«, fragte Viktor und erhob sich.
»Natürlich ...« Der Fresssack gähnte gekünstelt. »Was soll man hier auch anschauen, hä? Es wird ja wohl kaum einer übrig geblieben sein ... autsch!« Er schüttelte den Kopf. »Ich hab gelogen ... gelogen ...«
Viktor folgte seinem Blick. Er fürchtete jetzt keinen Schlag aus dem Hinterhalt mehr, der Fresssack verfolgte andere Absichten; und außerdem glaubte Viktor an seine neue Kraft, die so unerwartet aufgetaucht war.
Ein Junge schleppte sich die Straße entlang. Er war vielleicht neunzehn oder zwanzig Jahre alt, dünn und kniff kurzsichtig die Augen zusammen. Er trug eine Tarnuniform, die so verschmiert war, dass nicht zu erkennen war, ob der Soldat zu einer echten, nationalen Armee gehörte oder ebenso standardisiert war wie die Stadt selbst. Über der Brust hing eine gewöhnliche Kalaschnikow - aber auch die war ja schon ein auf der ganzen Welt geläufiger Gegenstand. Über die Schultern des Jungen wölbte sich ein selbst gemachter Rucksack, besser gesagt ein Sack mit Aussparungen für zwei Beine, denn in diesem Sack hing schlaff ein menschlicher Körper. Ebenfalls ein junger Mann ... nur war er tot. Sein Kopf baumelte willenlos, seine Uniform war mit dunklen Flecken übersät.
»Wir schaffen das ...«, murmelte der Soldat vor sich hin. Er war noch weit entfernt, aber der diensteifrige Wind trug Viktor jedes Wort zu. »Scheiße, wenn wir es nicht schaffen ...«
Offenbar sah er Viktor und den Fresssack nicht.
»Mit denen rechnen wir noch ab ... keine Sorge ...«
Seine Stimme war heiser, als hätte der Junge lange nichts getrunken, als hätte er mit überschlagender Stimme geschrien und alles gesagt, was zu sagen gewesen war.
»Für die Jungs und für uns ... rechnen wir noch ab ... wenn wir nur erst da sind ... gleich haben wir es geschafft ...«
Er ging ganz nah an ihnen vorbei, Viktor trat sogar zur Seite; aber wie es aussah, war das ganz überflüssig, denn der Soldat ging geradewegs durch den grinsenden Fresssack hindurch, ohne ihn zu bemerken. Andererseits war der Junge sicher kein Gespenst, denn Viktor hörte nicht nur seine Stimme, sondern auch das schleppende Geräusch seiner Schritte und das Klacken der Kalaschnikow, deren Patronenmagazin sich immer wieder an der Gürtelschnalle festhakte, und er nahm Brandgeruch und Schweiß wahr.
»Mit wem will er abrechnen?«, fragte Viktor mit gepresster Stimme.
»Woher soll ich das wissen?«, ereiferte sich der Fresssack. Während er sich nachlässig gegen die Mauer eines Gebäudes lehnte, pulte er mit gekrümmtem Finger eine zerdrückte Kugel aus einem pockennarbigen Einschussloch. »Ist es wirklich wichtig, wen er fürchtet und hasst?«
Ein Teil der Mauer stürzte unmittelbar neben dem Fresssack herunter. Aber der ließ sich nicht stören.
»Es ist nur eine primitive Fantasie«, sagte er, während er hinter dem Soldaten hersah. »Städte brennen, Häuser stürzen
»Eine Fantasie?«
Der Fresssack dachte nach, während er die Kugel zwischen den Fingern knetete. Der Bleiklumpen erhielt wieder eine glatte Wölbung und nahm seine ursprüngliche Gestalt an. »Na ja ... vielleicht nicht gerade eine Fantasie ...«, bekannte er widerwillig. »Wahrscheinlich hast du Recht ...«
Seine Augen leuchteten auf.
»Na und«, fragte er glühend vor Neugier, »hast du so was schon mal erlebt?« Er beschrieb mit den Armen einen Kreis, gerade so, als wollte er Viktor die ganze Umgebung vorführen.
»Nein«, antwortete Viktor. »Nein.«
Der Fresssack nickte verständnisvoll.
»Wird er es schaffen?«, fragte Viktor und blickte dem Soldaten hinterher. Der Junge war soeben hingefallen, erschöpft und im Schneckentempo rappelte er sich wieder auf. Die tote Last störte ihn.
»Was macht das schon für einen Unterschied?« Der Fresssack kam wieder in Fahrt. »Was berühren dich die Abenteuer dieses Körpers? Hä? Denkst du etwa, er ist im Recht?«
»Weiß ich nicht.«
»So, so, natürlich! Hast hier angehalten ... gaffst rum ... ach! Aber was hab ich dir gesagt? Flieg bis zum weißen Rauch, hab ich gesagt. Das ist noch weiter!«
»Ich finde es hier auch interessant.« Während Viktor die Worte aussprach, wurde ihm bewusst, wie unpassend sie waren. Interessant? Was redete er für einen Unsinn ...
Dafür wurde der Fresssack wieder freundlicher. »Na dann ... schau dich um ... lern was. Ich werd dich nicht zwingen ...«
»Verbrennst du nicht?«, rief Viktor ihm hinterher.
Der Fresssack kicherte nur leise, während er immer tiefer in den Dunst hineinging. »Keine Angst ... kümmere dich lieber um dich selbst ...«
Viktor spuckte auf den Boden und verfluchte sich für seine unangebrachten Sorgen. Diesem Bewohner seiner Alpträume brauchte er gewiss keine Ratschläge zu geben.
Sollte er tatsächlich den weißen Rauch suchen?
Aus irgendeinem Grund hatte er keine Lust, seine Reise durch diese herrenlose Welt fortzusetzen. Als ob die letzten Worte des Fresssacks einen ernsten Hintergrund gehabt hätten ...
Seine Unruhe wuchs. Sie schien durch nichts gerechtfertigt, was sie noch drängender machte.
Er drehte sich um und fing einen fremden Blick auf. Auf dem scherbenübersäten Asphalt, unter einem zerschlagenen Schaufenster, saß eine Katze. Eine rothaarige Katze mit durchdringend blauen Augen. Sie blickte so nachdenklich prüfend, wie es nur Menschen ... und Katzen vermögen.
»Kusch!«, sagte Viktor, leicht verwirrt von seiner eigenen abwehrenden Reaktion. Dabei war anzunehmen, dass ein streunender Hund sehr viel unberechenbarer war als dieses Tier hier, trotzdem, die Hündin hatte ihm keine Angst eingeflößt ...
Die Katze hob die Pfote - entweder um einen Schritt zu tun oder um ihn zu begrüßen. So kam es ihm jedenfalls vor!
Und Viktor begriff, augenblicklich und absolut, dass es an der Zeit war, aufzuwachen.
Wahrscheinlich half ihm die Angst. Wahrscheinlich half das ekelerregende Gefühl, das die tote Stadt in ihm heraufbeschworen hatte.
Er tauchte aus dem Schlaf auf, wie ein dünner Schwimmer aus eiskaltem Wasser auftaucht. Er spürte, dass er auf dem harten Deck lag, fühlte die grobe Matte unter sich, die zerfetzte Decke und wie Tel sich warm an ihn drückte. Er warf sich nach vorn, um sich aufzusetzen. Vom Schlaf blieb keine Spur zurück.
Fünf Meter von ihm entfernt stand eine Frau. Eine sehr attraktive Frau, die selbst in ihrer Reglosigkeit eine unvorstellbare Grazie ausstrahlte. Sie hatte goldfarbenes Haar, sehr zarte, matte Haut und riesige Augen, die aufmerksam und fragend blickten. Genau wie die Katze im Traum, aber selbst dieser überraschende Vergleich konnte Viktor nicht aufheitern.
An ihr war auch etwas von jenen mörderischen Magiern ... vielleicht nicht ganz so blutrünstig, aber nicht weniger mächtig. Kraft! Genau - es war Kraft, die von ihr ausging. Viel größere Kraft als die, die dem Menschen gegeben ist.
Loj saß am Rand des Kanals. Sie war müde, hatte alle ihre Kräfte aufgebraucht, aber dafür konnte sie sicher sein, dass sie allen Elementaren voraus war. Auf dem Kanal würde Ritor dem Drachentöter kaum eine Falle stellen. Nein, der erfahrenste aller Magier würde sein Opfer vermutlich auf dem Weg zur Festung des Erdclans abfangen wollen. Eine vernünftige Entscheidung, denn der Drachentöter würde nicht einfach verschwinden. Er hatte nur einen Weg.
Aber Ritor wusste nichts von Loj, und das kitzelte angenehm ihre Eigenliebe. Wie eine geschmeidige Eidechse glitt
Loj hatte keine Angst, dass der Mensch, den sie suchte, ihr entwischen könnte. Denn sie würde seine Kraft, selbst wenn diese schlummerte, unfehlbar spüren. Die entsprechende Beschwörungsformel hatte sie den letzten Rest ihrer Kraft gekostet, ja, aus ihr herausgesaugt, aber die starrköpfige Katze hielt durch. Ausruhen konnte sie später. Jetzt war die Zeit gekommen, vorbehaltlos alles zu geben.