Wie sich herausstellte, war es ganz einfach.
»Nein, das reicht«, sagte er und warf die grünschwarze Schale fort. »Wenn ich noch ein einziges Stück esse,
Tel schnaubte und blickte ihn von der Seite an. »Du bist ganz verschmiert.«
Sie ließen den Schubkarren stehen, bogen vom Weg ab und machten an einem Bächlein halt. Die Erde war steinig und trocken, selbst am Ufer wuchsen keine Pflanzen, und der allgegenwärtige Staub legte sich augenblicklich auf ihre vom Saft klebrige Haut.
»Du siehst auch nicht besser aus«, bemerkte Viktor. Er wusch sich mit dem kalten Wasser. Sein Bauch war schwer und aufgedunsen wie eine Trommel; er fühlte sich wie eine Riesenschlange, die einen Elefanten, einen Hut und auch noch Saint-Exupéry selbst verschlungen hatte. »Wenn du willst, ich ...« Die Idee war verlockend! »Wenn du willst, könnte ich versuchen, die Luft dazu zu bringen, dass sie den Staub von unserer Haut fortbläst ...«
»Auf keinen Fall!«, schrie Tel. »Du bist verrückt! Zeig keine Kraft!«
Viktor schwieg eine Weile. »Tel, du hast doch selbst gesagt, dass Lojs Befürchtungen Unsinn sind!«
»Ja! Vermutlich sind sie das! Aber was, wenn nicht?«
Gegen dieses Argument konnte er nichts einwenden. Es war immer besser, auf Nummer sicher zu gehen. Komisch war nur, dass er bei Tel bislang keine besondere Neigung zur Vorsicht wahrgenommen hatte.
»Ich tu’s nicht«, sagte Viktor ergeben. Die Zauberformeln, die Loj ihm beigebracht hatte, waren ihm verlockend deutlich in Erinnerung. Es war alles ganz einfach. Sollte es wirklich so leicht sein, sich die Kunst der Magie anzueignen? Nein, wahrscheinlich nicht für alle. Die Fähigkeiten des Drachentöters halfen ihm vermutlich, eben jene, derentwegen
»Gut so«, lobte Tel ihn. »Ich werd mich jetzt auch waschen.«
Viktor begriff erst, was Tel meinte, als sie sich das Kleid über den Kopf zog und zum Wasser ging. Also, sie war wirklich ein außergewöhnlich schamloses Mädchen! Nein, er würde sich nicht dümmlich abwenden und auf das Thema Anstand zu sprechen kommen, ganz im Gegenteil, er folgte ihr mit den Blicken. Ungeniert war sie. Und schön, da wäre es wirklich ein Jammer, sich zu verstecken.
Sie lockte ihn doch nur! Der Gedanke war beunruhigend und kränkend. Die Verliebtheit kleiner Mädchen in erwachsene Männer nahm für gewöhnlich nicht derart offene, provokante Formen an.
Tel plätscherte hinter ihm und quietschte vor Kälte, aber Viktor wälzte in Gedanken immer noch seinen verspäteten Verdacht. War es tatsächlich möglich, dass ein halbwüchsiges Mädchen bei diesem wahnsinnigen Treiben der Zauberer und Zauberinnen mitmachte - ein Mädchen vom Geheimen Clan?
Ja, das war möglich.
Außerdem - hätte Tel ihn tatsächlich verführen wollen und an die haltbarste aller Leinen legen wollen, nämlich jene, die aus Verliebtheit, Begehren und Schuldgefühlen besteht, dann hätte sie das doch längst getan. Zum Beispiel in jener ersten Nacht im Hotel, als er verwirrt gewesen war und unsicher, ob alles um ihn herum überhaupt Wirklichkeit war. Oder des Nachts auf dem Kahn, unter dem nachsichtigen Schleier der Dunkelheit, leicht angetrunken und aufgerieben, wie er war, nicht nur physisch, sondern vor allem seelisch - da hätte er nirgendwohin flüchten können ...
Viktor räusperte sich.
Nein, in der kommenden Nacht würde Tel schön schlafen, und er würde Loj einen Spaziergang im Mondschein vorschlagen. Unter dem jungfräulich-reinen Mond, der nicht von Astronautenschritten entweiht war, und durch zartes, junges Gras, das so sehr zum Niederlassen einlud. Und Loj war ohne Frage eine freizügige Frau. So freizügig, dass er sich nicht scheute, sie als Luder zu bezeichnen. Loj lebte davon; Sex war für sie eine ebenso selbstverständliche Beschäftigung wie ein beiläufiges Gespräch oder ein Glas Wasser zu trinken ...
»Willst du dich nicht waschen?«, fragte Tel.
»Das Wasser ist kalt.«
»Dann lass uns gehen.« Tel erschien wieder in ihrem ursprünglichen Aufzug; mit dem hässlichen, kaputten Kleidchen, das ihr als Verkleidung gedient hatte, rieb sie sich, ohne zu zögern, die Beine trocken. »Wir gehen noch ein Stück den Hauptweg entlang, bald wird wieder mehr los sein. Vielleicht nimmt uns jemand mit. Du hast doch noch Geld, oder?«
»Und was ist mit Loj?«
»Wieso, willst du etwa auf sie warten?«
»Loj hat uns gebeten, nicht vor dem Abend weiterzuziehen.«
»Viktor!« Tel setzte sich vor ihn hin und schüttelte ihr feuchtes Haar. Viktor lächelte unwillkürlich über diese Geste. Verdammt, hatte sie tatsächlich schon bemerkt, welche Bewegungen er an ihr mochte? »Warum benimmst du dich wie ein kleiner Junge? Warum soll ich die Suppe für uns beide auslöffeln?«
»Was meinst du damit?«
»Ich traue Loj nicht«, sagte Tel mit fester Stimme. »Erstens tut sie immer so rätselhaft. Sie sagt uns nicht alles.«
»Das ist möglich.«
»Und zweitens wird sie nichts verheimlichen können, falls die Magier sie erwischen sollten. Ein erfahrener Zauberer holt sogar aus einem toten Zauberer die Wahrheit heraus.«
»Aus einem toten Zauberer?«
»Die Toten sind schutzlos«, sagte Tel in einem Ton, der ihn an den Wächter der Grauen Grenze erinnerte. »Die Toten verfügen über keine magische Kraft mehr, Viktor! Ach, ich Dummchen, ach ja ...«
Mit ihrem ganzen Wesen brachte Tel auf einmal Reue und Verwirrtheit zum Ausdruck.
»Was ist los?«
»Na ja, Loj ist eine schöne Frau ...« Tel blickte ihm nicht in die Augen. »Und schrecklich erfahren, wie hunderttausend Frauen auf einmal, wahrscheinlich ... Du begehrst sie, oder? Nun ja, so ist das doch bei Erwachsenen ...« Sie klimperte verwirrt mit den Augenlidern.
Viktor hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass Tel mit ihm spielte. Nur hatte er nichts gegen sie in der Hand. Der Blick des Mädchens war aufrichtig und ganz und gar unschuldig, und ihre Wangen waren sogar gerötet.
»Sie ist wahrscheinlich schon so um die hundert«, fügte Tel nachdenklich hinzu. »Vielleicht auch zweihundert. Magier ersten Ranges sterben nicht an Altersschwäche ... Du könntest es so schön mit ihr haben, und ich, ich störe ...«
»Hau mir bloß ab damit!« Viktor sprang auf. »Was redest du da für einen Mist ...«
»Übers Alter?«
»Über mich! Ich will mit den Intrigen greiser Kokotten nichts zu tun haben! Los, gehen wir!«
Es war tatsächlich nicht weit bis zu einem stärker befahrenen Abschnitt des Wegs. Sie brauchten nur eine halbe
»Schmoll nicht«, sagte Tel plötzlich, als könnte sie seine Gedanken lesen. »Bitte. Wenn Loj nichts zugestoßen ist, findet sie uns sowieso.«
»Bewacht sie uns mit einer Zauberformel?«, fragte Viktor trocken.
»Jetzt sei doch nicht sauer.« Tel fasste seine Hand. »Na komm schon ... Loj braucht keine Formeln, sie ist nicht umsonst eine Katze. Die wissen, wie man ausspioniert, wie man sich versteckt, flüchtet, lügt - das ist Teil ihrer Kraft.«
»Aha, alles klar. Sie nimmt also unsere Witterung auf, folgt ihren niedrigsten Instinkten ...«
Als er sich die bezaubernde Loj vorstellte, wie sie auf allen vieren den Weg entlang irrte, musste Viktor lächeln. Und wenn es stimmte, dass sie tatsächlich schon über hundert Jahre alt war ...
»Aber wenn ihr etwas zustößt, weil wir nicht auf sie gewartet haben«, sagte Viktor mit drohender Stimme.
»Ich weiß, ich weiß. Das würdest du mir nie verzeihen, du würdest es mir sehr übelnehmen, mich in ein Waisenhaus oder ein Kloster stecken ... Mach dir keine Gedanken um Loj! Weißt du nicht, dass Katzen neun Leben haben?«
»Ah, da bin ich ja beruhigt ...«
Einige Augenblicke später sagte Tel unerwartet: »Aber ich bin sehr froh, dass du dich um Loj sorgst; wenigstens um irgendwen ...«