Andererseits war es auch nicht nötig, Tels Lüge aufzudecken, schließlich wollte er sich an ihrem Gespräch nicht beteiligen, sondern viel lieber über Pawel Kortschagin weiterlesen. Er streckte sich auf dem Boden des Wagens aus und blickte in den klaren Himmel. Kein Wölkchen, nirgendwo Rauch. Die Räder quietschten vor sich hin, der Wagen wurde ein bisschen durchgeschüttelt, aber nicht allzu sehr, denn die Trasse war stark befahren und die Erde zu einer Fahrrinne festgedrückt. Tel und Wasja hechelten die Magier durch. Aber natürlich respektvoll und voller Vorsicht.
Warum fuhr er nach Feros?
War es nicht an der Zeit, Tels Plänen nicht länger gehorsam zu folgen? Ja, ja natürlich, das Mädchen half ihm. Aber sie ließ doch auch ihre eigenen Ziele nicht aus den Augen. Schließlich hatte sie erst einen Nichtschwimmer ins Wasser gestoßen, ehe sie ihm jetzt stolz den Rettungsring zuwarf. Er musste endlich offen mit ihr reden ...
Plötzlich begriff Viktor, dass Loj Iwer in all seinen wütenden Gedankengängen eine Rolle spielte. Die graziöse Loj, wie sie ihre langen, wohlgeformten Beine ausstreckte und ihn vollkommen unzweideutig anlächelte. Verdammt! Was strahlte diese Frau nur für eine Faszination aus? Selbst wenn sie schon Hunderte von Jahren alt war, wie Tel gesagt hatte ...
Wie alt war wohl Tel?
Er hob den Kopf und blickte zu dem Mädchen hinüber. Genau im richtigen Moment, denn soeben legte Wasja ihr den Arm um die Schulter; er bekam postwendend eine leichte Ohrfeige und nahm ohne jedes Zeichen von Gekränktheit seinen Arm wieder weg.
Es gelang Tel, sich sehr unterschiedlich zu präsentieren. Mal war sie eine ernsthafte Lehrmeisterin, dann ein erschrockenes Kind, dann wieder eine erbarmungslose, kalte Frau. Wie sie über den Grenzer und seine Söhne einfach gesagt hatte: »Sie sind glücklich gestorben.« Beiläufig und nachlässig. Das war nicht der Zynismus einer Halbwüchsigen, wie er anfangs gedacht hatte. Und wenn er dann noch Lojs Worte über den Geheimen Clan in Betracht zog ...
Tel drehte sich zu ihm um, streckte ihm die Zunge raus und zupfte den Kutscher spielerisch am Genick. Viktor wandte verwirrt den Blick ab.
Nein, ganz gleich, wie viele Rätsel sie ihm aufgab, vorerst war es noch zu früh, um Schlüsse zu ziehen. Ach, wenn Loj doch nur hier wäre! Die spielte zwar auch ihr Spielchen, aber zumindest ein sehr viel durchsichtigeres. Wo war sie jetzt, die Zauberin Loj Iwer?
15
Loj Iwer streckte ihren müden Körper wohlig auf den kühlen Steinen aus, während sie auf dem Bauch liegend Wasser aus dem Bach trank. Von der Seite sah es albern aus: Eine schöne Frau in zerrissenen Kleidern lag in einer merkwürdigen, für einen Menschen unbequemen Haltung da, ihr Kinn nickte über den schnellen Wasserstrudeln auf und ab, und ihre rosa Zunge blitzte auf; die Frau warf kurze Blicke nach rechts und links, ehe sie den Kopf wieder zum Bach beugte.
Aber niemand sah Loj Iwer von der Seite. Niemand interessierte sich für die mit Dickicht bewachsene Senke, wo sie sich versteckt hielt, um sich nach ihrer Flucht vor Ritor und seinen Gefährten zu erholen. Nur eine neugierige Meise sprang von Ast zu Ast und beobachtete den unerwarteten Gast. Loj kniff die Augen zusammen, blickte zu dem Vogel hinüber und sagte: »Mi-ia-au!«
Die Meise reagierte überhaupt nicht.
Loj lachte auf und schüttelte dabei die ganze Anspannung ab, die ihr noch in den Knochen steckte. Der kluge, edle Ritor! Ha, dem hatte sie es gegeben! Ach, wie wütend der jetzt wohl war! Na ja, reg dich nicht auf, reg dich nicht auf, mein Lieber, du wirst schon noch begreifen, dass ich
»Ruhst du dich aus, Loj?«
Das Wasser im Bach geriet in Aufruhr, schwoll zu einem Hügel an. Weiße Schaumkronen deuteten Torns Haare sowie die dicken Augenbrauen an, und zwei winzige Wasserfälle seine Augen. Das verzerrte, gläserne, sich im ständigen Fluss befindliche Gesicht des Wassermagiers blickte Loj von der Oberfläche des Gewässers an.
»Esel!« Loj konnte nur mit Mühe einen Aufschrei unterdrücken. »Du ... du hast mich erschreckt!«
Die durchsichtige Maske lachte glucksend. Die Lippen des Magiers, die aus zwei kleinen Wellen bestanden, teilten sich, und Torn spritzte Loj einen feinen Wasserstrahl mitten ins Gesicht.
»Du Kretin!« Sie hatte sich schon wieder gefasst, fuhr aber fort, sich zu empören. Sollte Torns Eitelkeit sich doch geschmeichelt fühlen. Tatsächlich hatte der Magier ja auch allen Grund, stolz zu sein, immerhin hatte er sie allein mit Hilfe des schwachen Fadens der Kraft, die sich von dem Bach speiste, aufgespürt.
»Gut, gut, nimm es mir nicht übel«, sagte Torn versöhnlich. »Es war wirklich sehr komisch, wie du dich erschreckt hast. Sonst bist du es doch immer, die sich über arme alte Magier lustig macht ...«
»Wann hab ich mich über dich lustig gemacht?«, erregte sich Loj. Sie hatte sich aufgesetzt und brachte mit leichten Bewegungen das Wasser in Aufruhr, so dass über Torns Gesicht ein stetiges Kräuseln lief, das wie Falten aussah. »Es ist nicht sehr nett von dir, schwache Frauen zu beleidigen.«
»Mach dich nicht absichtlich klein.« Torns Gesicht drehte sich, schwamm auf der Oberfläche. Er streckte seine lange dünne Zunge heraus, leckte beiläufig Lojs Knöchel und löste sich in einer Garbe glitzernder Spritzer auf. »Denk lieber an Ritor! Unser nicht mehr allzu liebenswürdiger Freund ist außer sich vor Wut und droht damit, dir das Fell über die Ohren zu ziehen.«
Also verfolgte Torn ganz genau alles, was sich ereignete! Vor Schreck wäre Loj um ein Haar vom Bach weggesprungen.
»Was ist denn mit dir?«, fragte Torn. »Du hast die Magier der Luft so geschickt getäuscht ... Ich bin begeistert! Nein, wirklich, vielen Dank! Ritor hätte um ein Haar alle meine Pläne durchkreuzt.«
Es sah ganz so aus, als meinte er es aufrichtig, und Loj nickte und nahm den Dank würdevoll entgegen. Nach kurzem Zögern fragte sie: »Torn, warum hat dein Strafkommando Viktor verfolgt? Warum haben sie in Luga versucht, ihn umzubringen?«
»Aha, du weißt also schon Bescheid«, gluckste Torn zufrieden. »Ich habe mich immer gewundert, wie der Clan der Katzen es schafft, über alles auf dem Laufenden zu sein.«
»War das ein Ablenkungsmanöver?« Loj ließ nicht locker. »Um Ritor zu verwirren?«
»Nicht nur das, Loj, nicht nur das ...« Torn versank in Nachdenken, die durchsichtige Maske sank auf den Grund des Baches, um kurz darauf wieder an der Oberfläche aufzutauchen. Das Wasser schwoll merklich an, offenbar zog die Magie alle Säfte der Quelle heran. »Schön. Du hast das Recht, gewisse Dinge zu erfahren. Der Drachentöter erlangt die Kraft im Kampf, im Duell. Der Hass im Kampf ist es, der ihn nährt und ihm die Gewalt über die Elemente verleiht. Der arme Gotor ... aber er wollte es selbst so. Er reizte den Drachentöter, trieb ihn an. Vernichtete jene, die an dessen Seite kämpften. So lange, bis der Drachentöter endlich die Kraft des Wassers annahm.«
»Das heißt, Ritor hat sich selbst geschadet?«, rief Loj aus. »Als er Viktor angriff, half er ihm, die Kraft der Luft zu erkennen?«
Torns Lippen verschwammen zu einem Lächeln.
»Du spielst klug, Torn.« Loj schüttelte den Kopf. »Du siehst weit voraus ...«
Es lag ihr auf der Zunge, zu sagen, dass jemand mit solchen Fähigkeiten ab und zu auch mal zurückblicken sollte, aber die Katze schwieg wohlweislich. Sie hatte viel erfahren von dem, was sie wissen wollte. Und selbst hatte sie nichts preisgegeben.
»Jetzt wirst du herumrätseln, wie die Einzelheiten der Drachentöter-Weihen vonstatten gehen ...« Torn runzelte die Brauen. »Plag dich nicht damit. Du gehörst nicht zu den Elementaren und musst dich nicht mit überflüssigem Wissen belasten.«
»Ach ja? Und was schlägst du mir vor, was ich stattdessen machen soll?«, fragte Loj boshaft.
»Liebe, zum Beispiel.« Torn lachte lauthals.
Wie kühn er aus dieser Distanz war! Loj zerschmolz zu einem Lächeln. »Geliebter! Wenn du wüsstest, wie sehr ich dich begehre! Allein schon bei der Erinnerung wird mir warm.«