Tel antwortete nicht. Sie wartete, bis Viktor sich die Lippen mit einer Handvoll Stroh abgewischt und sich entkräftet wieder hingelegt hatte.
»Ich hab schon mal gehört, dass man besser nicht über die Drachen sprechen soll!«, rief Wasja aus. »Aber ich hab es nicht geglaubt! Das nächste Mal jag ich dich vom Wagen - solche Weggefährten wie ihr zwei bringen noch Unglück!«
Ohne eine Reaktion abzuwarten und weiter vor sich hinbrummend, kletterte Wasja auf den Kutschbock. Er schnalzte mit den Zügeln und trieb das Pferd an.
»Was hast du gesehen?«, fragte Tel flüsternd. »Was?«
Viktor lag da, und noch immer strömte klebriger Schweiß aus seinen Poren. Sein Körper kam erst langsam zu sich, noch glaubte er nicht daran, dass um ihn herum ein sonniger, heiterer Tag herrschte und nicht der graue Nebel, in dem er als Drachentöter für immer mit den Geflügelten Herrschern der Mittelwelt abgerechnet hatte.
»Ich war der Drachentöter ...«
»Wieder!«
»Ich ... ich habe den letzten Drachen getötet. Es war ganz leicht. Es zerriss ihn in Stücke ... die Gier, zu kämpfen, die Angst um seine Frau, der Wunsch, sich zu rächen, und die Hoffnung zu überleben. Zu viele Emotionen, zu viele Wünsche. Und ich, ich wollte nur eines - ihn vernichten.«
»Und du hast es getan.«
In Tels Stimme lag keinerlei Spott, sie stellte nur die bloße Tatsache fest.
»Ja«, sagte Viktor im gleichen nüchternen Tonfall. »Fast ...«
»Wieso fast?«
»Ich ließ die Frau laufen, die mit ihm kam. Sie war kein Drache ... ich konnte so handeln. Aber erst ...« Viktor krümmte sich bei der Erinnerung.
»Sprich!«, forderte Tel.
»Ich habe sie vergewaltigt. Ohne jede ... ohne jede Lust. Der Hass suchte einen Ausweg.«
Ihre Blicke trafen sich. Tel schüttelte den Kopf. »Mach dir keine Vorwürfe. Das warst nicht du.«
»Ja. Ritor war es. Der Magier der Luft, der auserwählt wurde und die Weihen empfing. Ritor tötete den Drachen. Aber ...« Viktor hielt den Atem an. »Aber ich ... ich bin genau so. Meine Seele ist die Seele eines Drachentöters.«
Tel schwieg.
»Du ... du hast die Drachen gelobt ...«
»Nein! Ich habe nur gesagt, wie sie wirklich waren.«
»Egal. Ein Mensch hat nicht das Recht, einen Drachen zu töten.«
»Er hat das Recht, wenn er ihm ebenbürtig ist. Ritor war das. Er hat ihn herausgefordert. Und besiegt. Es wäre eine Lüge, ihn der Niedertracht zu bezichtigen. Unrecht war, dass er die Frau laufen ließ.«
»Warum? Ich erinnere mich, was er dachte: Sie ist kein Drache.«
»Sie war die Frau eines Drachen. Und sie könnte ... die Mutter eines Drachen werden.«
Viktor schloss die Augen. »Nein, Tel. Könnte sie nicht. Das wäre nicht geschehen, verstehst du? Sie war noch nie mit jemandem zusammen - vor Ritor.«
16
Dem jungen Kutscher war die Lust auf eine Unterhaltung mit seinen beiden Mitreisenden offenbar vergangen. Entweder hatten ihn Tels Vorwürfe gekränkt, oder der Vorfall mit Viktor hatte ihn allzu sehr mitgenommen. Als gegen Abend niedrige graue Mauern in der Ferne sichtbar wurden, begann Wasja sein Pferd energisch anzutreiben. Und die Stute schien ihrerseits die Aussicht auf eine baldige Rast zu spüren und beschleunigte bereitwillig ihren Schritt.
Die kleine Stadt vor ihnen teilte sich offenbar in zwei Bereiche. Der kleinere Teil lag hinter den Festungsmauern, der größere bestand aus ärmlichen Häusern und erstreckte sich entlang der Hügelkette. Der Weg, auf dem sie unterwegs waren, beschrieb einen Bogen und führte in einem beachtlichen Abstand an der Zitadelle vorbei.
»Hinter den Mauern liegt das Schloss des Fürsten«, rief Wasja ihnen über die Schulter zu. »Ich kann da nicht rein ... solange ich nicht ... Ich fahr zum Ausspannhof.«
»Na, dann gehen wir zu Fuß dorthin«, schlug Viktor vor.
»Ihr müsst euch beim Fürsten zeigen.« Wasja wandte sich wieder zu ihnen. »Ich bin der Erde treu ergeben und kenne die Regeln! Wenn ihr zu den Magiern nach Feros
Viktor blickte Tel an, die nickte.
»Also, Wasja, lieber Freund, wir danken dir«, sagte Viktor. »Fürs Mitnehmen und für die Milch.«
»Die Erde hat uns getragen, ihr musst du danken«, brummte Wasja. »Und, soll ich anhalten?«
Sie kletterten von der Kutsche. Wasja trieb sein Pferd wieder an und nahm sein Buch zur Hand.
»Du hast ihn ganz schön erschreckt mit deinen Drachen, Tel.«
»Na und?« Das Mädchen verzog verächtlich das Gesicht. »Er soll nicht auf den Herrscher spucken, wenn er selbst keine Flügel hat. Lass uns gehen, damit wir die Stadt bis zum Einbruch der Dunkelheit erreichen.«
Sie bogen vom Weg ab und steuerten geradewegs auf die Mauern zu. Der Teil der Stadt, der von der Mauer eingeschlossen war, erwies sich keineswegs als klein, aber er wirkte irgendwie gedrungen und niedrig, als ob er mit der Erde verschmölze. Sogar die Türme, die aus den Mauern aufragten, schienen sich ihrer Höhe zu schämen und sahen wie in die Breite aufgebläht aus. Dafür erstreckte sich rundherum eine schlichte, idyllisch anmutende Landschaft: Wiesen, die aus fettem, sorgfältig gepflegtem Gras bestanden; ab und zu ein Bäumchen - allesamt wie handverlesen, einer kräftiger als der andere, keiner war vertrocknet oder vom Wind gekrümmt; sogar die Hügel lagen wie geglättet da.
»Warum hast du mich als deinen Bruder ausgegeben?«, fragte Viktor. »Wir sehen uns doch überhaupt nicht ähnlich.«
»Warum? Wenn ich mir die Haare färben würde, könnten wir gut als Geschwister durchgehen ... So ergibt es eine vernünftige Geschichte, Viktor. Man hat festgestellt, dass ich über eine gewisse Kraft verfüge, so was kommt häufiger vor. Deshalb begleitest du mich zu den Magiern, das passt alles tadellos zusammen. Du musst mich vor den Gefahren auf der Reise beschützen, und du kannst dich selbst, wenn möglich, in der Nähe der Magier niederlassen ... Das wird keinem komisch vorkommen.«
»Und wenn sie dich auffordern, deine Kraft vorzuführen?«
»Dann führ ich sie eben vor.« Tel lachte. »Was denn? Denkst du, ich kann kein Erz oder Wasser in der Erde finden? Das ist doch ganz einfach. Alles, was sich einer im Selbststudium aneignen kann, bekomme ich mühelos hin.«
»Und das, was man im Selbststudium nicht lernt?«
»Wenn man sich ein bisschen anstrengt ...« Tel wich der Frage aus. »Hauptsache, du behältst deine Kraft für dich, zeigst sie keinem. Ritor ist außer sich vor Wut, er sucht alles nach dir ab.«
»Warum verfolgt er mich so hartnäckig?«
»Er verfolgt sich selbst, Viktor. Er hat den Tag verflucht, als er zum Drachentöter wurde. Er glaubt, dass nur der Drache unsere Welt retten kann.«
»Bist du anderer Meinung?«
»Alles kann passieren.«
»Aber hat er Recht? Kommt der Drache wirklich?«
»Ja. Auch du musst auf seine Ankunft vorbereitet sein.«
Endlich erreichten sie die Stadt. Sie folgten der steinernen Mauer, bis sie zu einem Tor kamen, durch das die letzten, verspäteten Fuhrwerke Einlass in die Festung fanden.
Als Ersten traf es einen graubärtigen Alten, der eine ganze Karre voller Melonen vor sich her schob; ob der Dummkopf denn nicht wisse, dass alle treuen Vasallen der Erde ausreichend eigene Früchte und Gemüse hatten? Einen Bauerntölpel, der mit offenem Mund die dicken Mauern und mächtigen Tore anstaunte, überhäuften sie mit Spott. Einer Schar Mädchen in einem offenen Fuhrwerk, das von einer unansehnlichen, vertrockneten Alten gelenkt wurde, warfen sie jede Menge gesalzene - und wie Viktor fand, vollkommen überflüssige - Bemerkungen zu. Die Mädchen jedoch reagierten mit gutmütigem Gelächter, und das alte Weib parierte in einer Art und Weise, dass selbst die heldenmütigen Wachen hätten rot werden müssen. Über einen einzelnen Reiter - einen ganz jungen Kerl auf einer klapprigen Mähre mit gelblichem Fell - machten sie sich von hinten bis vorne lustig, angefangen bei seinem lächerlichen Hut bis hin zum altertümlichen Degen. Es war nur gut, dass der Junge, der ganz versunken in den Anblick der Türme war, nichts von ihrer Boshaftigkeit mitbekam.