Tel, die sich schnell ihre Bluse übergezogen hatte, drückte sich schluchzend aufs Bett.
»Ich befehle, ihn zu ergreifen!«, ertönte die Stimme des Fürsten erneut. Trappeln war zu hören, Soldaten mit gezückten Degen und angelegten Musketen rannten durch den Saal. Viktor begriff mit kalter Gleichgültigkeit, dass nun das Töten beginnen würde.
Und zwar richtig.
So, dass alle bisherigen Gefechte im Nachhinein wie eine armselige Parodie dieses Kampfes wirken würden. Als wollte man Sandkastenduelle mit der Schlacht von Stalingrad vergleichen.
»Nein, Fürst!«
Aus dem Augenwinkel sah Viktor, dass der Ritter in Dunkelrot das Schwert gezückt hatte, einen langen, blitzenden Streifen schwarzen Stahls.
»Er hat das Recht, ein Duell zu fordern, Fürst! Andrzej wusste, was er anrichtet!«
Und neben dem Ritter stellten sich immer mehr Bankettgäste auf und zückten ihre Schwerter. Wie war es nur möglich, dass diese völlende, Zoten reißende Menge sich für ihn starkmachte? Eine dichte Reihe Verteidiger trennte Viktor jetzt von den Gardisten, die verunsichert stehen geblieben waren.
Sein blindwütiger, blutiger Zorn legte sich. Verschwand mit einem jämmerlichen, lautlosen Aufjaulen.
Und in dieser Sekunde hätte man alles mit ihm machen können. Eine beliebige, schwächliche kleine Formel hätte ihn besiegt. Ein Schwerthieb, ein Fußtritt hätte ihn
Aber der Magier der Luft sprach noch immer seinen Zauber. Die Erde zitterte noch immer aus Angst vor dem, was geboren werden sollte. Aus den Steinwänden quollen Bluttropfen. Undeutliche Schatten blitzten in der Luft auf.
Andrzej wirkte und wirkte die endlose Kette seiner Formeln ...
Viktor machte einen Schritt vorwärts, packte den Wasserkübel und stülpte ihn dem Magier mit einem plötzlich aufflackernden Gefühl der Langeweile über den Kopf.
Der Magier schwankte und setzte sich auf den Boden. Das unterirdische Donnern verklang, ohne sich in einem vernichtenden Erdbeben Bahn zu brechen, die Wände hörten auf zu zittern. Nur das Vorgefühl der Kraft, dieser mächtigen, von den Wurzeln der Erde ausgehenden Kraft, war noch zu spüren ...
Viktor warf die Arme in die Luft und saugte die verlorengegangene Macht in sich auf. Von den eisigen Gletschern auf den bergigen Höhen bis zum heißen Inneren der Erde ... Die Grenzenlosigkeit der friedlichen Pole und die tödliche Kraft des Steinschlags ... Die Härte des Granits, das Strahlen der Diamanten, die Freigebigkeit der gebärenden Erde ...
Der Magier saß in der Wasserlache, bewegte kraftlos die dünnen Arme und begriff nicht, was passiert war. Wohin hatte sich die gewaltige Macht verflüchtigt?
Tel stand vom Bett auf. Vollkommen ruhig zog sie ihre Kleider zurecht und schlüpfte in ihre zerrissene weiße Jacke. Ihr Gesicht war nicht länger verweint, im Gegenteil, zufriedener Triumph stand darin geschrieben. Auch von der
»Wollen wir gehen, Viktor?«, fragte sie und ging um Andrzej herum. »Hier sind wir fertig.«
Na gut. Später. Sittenlehre und Erklärungen würden später folgen.
Sie traten auf die schweigende Reihe der Ritter zu. Viktors Augen trafen den Blick des Mannes in Dunkelrot. Der hob das Schwert und salutierte kurz.
»Ich werde nicht vergessen, was du getan hast«, sagte Viktor.
Der Ritter lächelte schwach. »Aber dein Schwert taugt doch nichts ...«
»Du kannst mit uns kommen.«
Der Ritter schüttelte den Kopf und schob das Schwert zurück in die Scheide. »Mein Platz ist hier, Herr.«
Der Fürst saß noch immer am Kopfende des Tisches. Offenbar beunruhigten ihn die Vorfälle kein bisschen. Wahrscheinlich fand er einen gewissen Gefallen an den Kämpfen der Magier.
»Danke für die Speisen«, sagte Viktor.
»Und für den Wein«, fügte Tel hinzu. »Er schmeckt ausgezeichnet.«
Die Leute wichen vor ihnen auseinander. Die Gardisten stellten sich nach einem Blick zum Fürsten an der Wand auf, und man konnte hören, wie irgendwo im Saal bereits wieder ein Glas gefüllt wurde. Das Serviermädchen machte sich im Schlafzimmer zu schaffen, wo der Magier noch immer in der Pfütze saß.
Mit einem Mal gingen die Flügeltüren des Saals auf, und ein dümmlich lächelnder, irgendwie benebelt wirkender Gardist führte eine junge Frau über die Schwelle.
»Lady Loj Iwer ...«
Das Oberhaupt des Katzenclans schubste seinen Begleiter zur Seite und musterte mit schmalen Augen den Saal. Sie nickte Viktor zu. »Auf den Hof hinaus, schnell!«
»Es ist alles in Ordnung, Loj.« Viktor wunderte sich nicht über ihr Erscheinen. Die Zauberin gehörte nicht zu der Sorte Frauen, die man leicht abschütteln konnte, da hatte Tel Recht ...
»Ritor hat dich aufgespürt, du Dummkopf! Du weißt doch selbst, was für Kräfte du zu Hilfe gerufen hast, oder?«
Loj fasste mit einer Hand Viktor und mit der anderen Tel und zog sie zur Treppe. Sie schimpfte im Laufen und blickte die entgegenkommenden Wachen so böse an, dass diese sich sogleich aus dem Staub machten.
»Ich habe eine Kutsche gemietet ... mit guten Pferden. Die fürstlichen Stallknechte machen sie gerade reisefertig. Wir müssen uns beeilen, Viktor!«
»Warum bist du so verärgert, Loj?«, rief Tel, während sie versuchte, ihre zerrissene Jacke zuzuhalten.
»Ach, so ist das Leben!«, antwortete Loj hitzig. »Mach dir keine Sorgen, das hat nichts mit dir zu tun.«
Sie blieb eine Sekunde lang stehen, fasste Tel am Kinn und blickte ihr in die Augen.
»Ein schlaues Kind bist du«, sagte sie wohlwollend. »Trotz allem ein sehr schlaues Kind.«
17
»Siehst du, wie günstig sich alles ergeben hat?« In dem von Loj geborgten Spiegelchen betrachtete Tel besorgt eine Schramme auf ihrer Wange. Die Kratzer von den Krallen der Zauberin, die seit der ersten Begegnung der beiden Frauen dort prangten, wollten einfach nicht heilen. Und selbst Loj vermochte nichts daran zu ändern.
»Ja, das war nicht schlecht«, musste Viktor notgedrungen zugeben. Der ganze Kampf mit Andrzej kam ihm im Nachhinein wie eine harmlose Begebenheit vor, die sich ausgezeichnet zur Anekdote eignete. Er wollte Tel keine Vorwürfe machen wegen der Provokation. Schließlich hat der Sieger bekanntermaßen immer Recht. Sogar Loj betrachtete Tel jetzt mit deutlich mehr Respekt.
Loj Iwer - das Oberhaupt der Katzen - war, da gab es keinen Zweifel, eine clevere Frau. Sie verfolgte ein bestimmtes Ziel, aber es war nicht klar, worum es ihr ging. Und sie war schön, mhmhm, ja ... Viktor wurde sogar schwindelig vor Augen, obgleich er jetzt wirklich andere Sorgen hatte. Er sollte nicht daran denken, aber er tat es immer wieder ...
Die Kutsche des Fürsten war ihnen nicht lange von Nutzen. Die von Loj bezauberten Stallknechte hatten ihnen keine robuste Reisekutsche gegeben, sondern ein mit Quasten
»Hier bleiben wir bis morgen ... Viktor.« Jedes Mal, ehe Loj seinen Namen aussprach, machte sie eine kleine, vielsagende Pause. »Die Magier der Luft haben wir im Augenblick abgehängt, und außerdem werden sie kaum an einer so offenen Stelle angreifen. In Oros sieht das dann natürlich wieder anders aus ... Beim Clan der Erde herrscht jetzt ein schrecklicher Aufruhr, aber vorerst sind sie noch damit beschäftigt, die Verfolgung zu organisieren! Und später könnte ich sie wahrscheinlich um den Finger wickeln. Wir werden so lange wie möglich durchhalten ... und dann denke ich mir schon was aus.«
Tel hörte sich alles an und sah dabei wieder wie ein schmollendes kleines Mädchen aus. Aber sie war klug genug, sich jede Stichelei zu verkneifen, denn immerhin hatte Iwer ihnen geholfen, Ritors Falle zu umgehen, und auch jetzt war sie genau rechtzeitig mit ihrer Kutsche aufgetaucht.
»Und was machen wir morgen?«, erkundigte sich Viktor.
»Wir gehen zum Clan des Feuers, nach Oros«, antwortete Tel widerwillig. »Loj Iwer, wie lange ...«