In diesem Moment hörte der Drache auf zu kreisen. Er schwankte einen Moment, dann stieg er hoch. Die Matrosen jubelten, sie dachten, er flöge davon. Aber Laurana, sich an Tanis erinnernd, wußte es besser.
»Er macht einen Sturzflug!« schrie sie. »Er greift an!«
»Geht nach unten!« befahl Sturm, und die Matrosen begannen nach einem zögernden Blick in den Himmel zu den Luken zu kriechen. Der Kapitän rannte zum Steuer.
»Nach unten mit dir!« befahl er dem Steuermann und übernahm.
»Du kannst nicht hierbleiben!« schrie Sturm. Er rannte zum Kapitän zurück. »Er wird dich töten!«
»Wir werden sinken, wenn ich nicht bleibe«, schrie der Kapitän wütend.
»Wir werden sinken, wenn du tot bist!« erwiderte Sturm. Mit einem Kinnhaken setzte er den Kapitän außer Gefecht und zog ihn dann nach unten.
Laurana stolperte die Stufen hinunter, Gilthanas folgte ihr.
Der Elfenlord wartete, bis Sturm den bewußtlosen Kapitän nach unten geschafft hatte, dann zog er die Luke zu.
In diesem Moment traf der Drache das Schiff mit einer Wucht, die es fast zum Kentern brachte. Das Schiff neigte sich bedenklich zur Seite. Alle, selbst der abgehärteste Matrose, verloren das Gleichgewicht und schlidderten ineinander. Flint rollte mit einem Fluch auf den Boden.
»Jetzt ist die Zeit, zu deinem Gott zu beten«, sagte Derek zu Elistan.
»Das tue ich bereits«, entgegnete Elistan kühl und half dem Zwerg.
Laurana, die sich an eine Stange geklammert hatte, erwartete ängstlich das flackernd orangefarbene Licht, die Hitze, die Flammen. Statt dessen gab es eine plötzliche scharfe und bittere Kälte, die ihr den Atem nahm und ihr Blut gefrieren ließ.
Über sich konnte sie das Takelwerk zerreißen und zerspringen hören, dann hörten die Segel auf zu schlagen. Als sie nach oben starrte, sah sie weißen Frost zwischen den Sprüngen im Holzdeck durchsickern.
»Die weißen Drachen atmen keine Flammen!« stellte Laurana fest. »Sie atmen Eis! Elistan! Deine Gebete wurden erhört!«
»Pah! Was für ein Unterschied«, sagte der Kapitän kopfschüttelnd. »Das Eis wird uns einfrieren.«
»Ein eisatmender Drache!« sagte Tolpan verträumt. »Das würde ich so gern sehen!«
»Was geschieht jetzt?« fragte Laurana, als sich das Schiff wieder langsam ächzend und stöhnend aufrichtete.
»Wir sind hilflos ausgeliefert«, knurrte der Kapitän. »Das Takelwerk wird unter dem Gewicht des Eises einreißen und die Segel nach unten ziehen. Der Mast wird wie ein Baum im Eissturm brechen. Ohne Steuerung wird die Strömung das Schiff an den Felsen zerschellen lassen, und das wird dann unser Ende sein. Wir können überhaupt nichts unternehmen!«
»Wir könnten versuchen, ihn beim Vorbeifliegen zu erschießen«, schlug Gilthanas vor. Aber Sturm schüttelte den Kopf.
»Über uns hat sich bestimmt eine dicke Schicht Eis gelegt«, sagte der Ritter. »Wir sind eingeschlossen.«
So will der Drache also an die Kugel kommen, dachte Laurana kläglich. Er läßt das Schiff kentern, tötet uns, dann kann er die Kugel zurückerobern, ohne der Gefahr ausgesetzt zu sein, daß er im Meer versinkt.
»Noch so ein Schlag wird uns zum Meeresgrund befördern«, sagte der Kapitän voraus, aber ein weiterer schwerer Schlag folgte nicht. Der Drache setzte seinen Atem sorgfältig ein, um sie zur Küste zu treiben.
Es war ein hervorragender Plan, und Sleet war ziemlich stolz auf sich. Er glitt hinter dem Schiff her, ließ es von der Strömung zur Küste tragen und half ab und zu mit einem kleinen Atemstoß nach. Erst als er die zerklüfteten Felsen aus dem vom Mond beleuchteten Wasser herausragen sah, erkannte der Drache plötzlich den Haken an seinem Plan. Dann war das Mondlicht völlig verschwunden, von den Gewitterwolken weggewischt, und der Drache konnte nichts mehr sehen. Es war dunkler als die Seele seiner Königin.
Der Drache verfluchte die Gewitterwolken, die den Drachenfürsten im Norden so gut für ihre Zwecke dienten. Aber die Wolken arbeiteten gegen ihn, da sie die zwei Monde auswischten. Sleet hörte das Splittern und Bersten von Holz, als das Schiff gegen die Felsen krachte. Er konnte sogar die Schreie der Matrosen hören – aber er konnte nichts sehen! Er flog tiefer über dem Wasser, hoffte, die erbärmlichen Gestalten bis zur Morgendämmerung in Eis einzuschließen. Dann hörte er jedoch in der Dunkelheit ein anderes, eher beängstigendes Geräusch das Schwirren von Bogensehnen.
Ein Pfeil zischte an seinem Kopf vorbei. Ein anderer bohrte sich in die zarte Haut seines Flügels. Vor Schmerz aufkreischend hielt Sleet in seinem Tiefflug inne. Wütend erkannte er, daß im Schiff auch Elfen sein mußten. Noch mehr Pfeile surrten an ihm vorbei. Diese verdammten Elfen, die in der Nacht sehen konnten! Mit ihrer Elfensicht würde er ein leichtes Ziel abgeben, besonders da er jetzt an einem Flügel behindert war.
Er fühlte seine Kraft schwinden und entschied, nach Eismauer zurückzukehren. Er war vom stundenlangen Fliegen müde, und die Pfeilwunde bereitete ihm unerträgliche Schmerzen. Es stimmte wohl, daß er nun der Dunklen Königin ein weiteres Versagen melden mußte, aber – je mehr er darüber nachdachte es war überhaupt kein Versagen. Er hatte dazu beigetragen, daß die Kugel der Drachen Sankrist nicht erreichte, und er hatte das Schiff zerstört. Er wußte, wo sich die Kugel befand. Die Königin konnte sie mit ihrem weitverstreuten Kundschafternetz in Ergod mühelos zurückgewinnen.
Beruhigt flog der weiße Drache gen Süden. Am nächsten Morgen erreichte er seine Gletscherheimat. Nach seinem Bericht, der angemessen entgegengenommen wurde, schlüpfte Sleet in seine Eishöhle und pflegte seinen Flügel.
»Er ist weg!« rief Gilthanas erstaunt.
»Natürlich«, sagte Derek müde, der mithalf, die Versorgungsgüter aus dem gestrandeten Schiff zu bergen. »Seine Sicht kann deiner Elfensicht nicht standhalten. Nebenbei, du hast ihn einmal getroffen.«
»Es war Lauranas Schuß, nicht meiner«, sagte Gilthanas und lächelte seine Schwester an, die am Strand stand.
Derek rümpfte zweifelnd die Nase. Sorgfältig stellte er die Kiste ab und ging wieder in das Wasser zurück. Eine Gestalt tauchte aus der Dunkelheit auf und versperrte ihm den Weg.
»Keinen Sinn, Derek«, sagte Sturm. »Das Schiff ist gesunken.«
Sturm trug Flint auf seinem Rücken. Als Laurana den Ritter vor Müdigkeit taumeln sah, lief sie zu ihm ins Wasser. Gemeinsam brachten sie den Zwerg zum Strand und legten ihn auf den Sand.
Dann hörte man Wasser aufplatschen. Tolpan watete heran, seine Zähne klapperten, aber sein Grinsen war breit wie immer.
Ihm folgte der Kapitän, auf Elistan gestützt.
»Was ist mit den Leichnamen meiner Männer?« fragte Derek gebieterisch, als er den Kapitän erblickte. »Wo sind sie?«
»Wir hatten wichtigere Dinge zu tragen«, sagte Elistan ernst.
»Dinge, die für die Lebenden notwendig sind, wie Lebensmittel und Waffen.«
»Viele gute Männer haben ihr letztes Zuhause unter den Wellen gefunden. Eure sind nicht die ersten – und werden auch nicht die letzten sein, nehme ich an«, fügte der Kapitän hinzu.
Derek wollte etwas erwidern, aber der Kapitän sagte: »Ich habe sechs meiner Männer in dieser Nacht verloren, mein Herr. Anders als Eure haben sie noch gelebt, als wir diese Reise begannen. Ganz zu schweigen von der Tatsache, daß mein Schiff und mein Lebensunterhalt auch dort unten liegen. Ich würde es mir überlegen, noch etwas hinzuzufügen, wenn Ihr versteht, was ich meine, mein Herr.«
»Es tut mir leid um deinen Verlust, Kapitän«, antwortete Derek steif. »Und ich danke dir und deiner Mannschaft für alles, was ihr versucht habt.«
Der Kapitän murmelte etwas, stand am Strand und blickte ziellos und verloren um sich.
»Wir haben deine Männer dort hinten den Strand entlang geschickt, Kapitän«, sagte Laurana. »Dort ist Schutz unter den Bäumen.«
Wie um ihre Worte zu bestätigen, flackerte ein helles Licht auf, das Licht eines großen Feuers.