Er hielt den Atem an. Silvara sah in die Dunkelheit und die Sicherheit des Waldes, dann wieder zu ihm. Sie will fliehen, dachte er, sein Herz klopfte. Dann senkte Silvara langsam ihr Messer. In ihren Augen war so viel Traurigkeit und Leid, daß Gilthanas beschämt wegsehen mußte.
»Silvara«, begann er, »ich wollte dich nicht mit meinen Problemen belasten. Ich verstehe nicht, was ich tue. Ich weiß nur...«
»...daß du es tun mußt«, beendete Silvara für ihn den Satz.
Gilthanas sah auf. Silvara hatte sich in die zerschlissene Decke gehüllt. Doch dies erhitzte nur noch mehr die Flammen seiner Begierde. Ihr silbernes Haar, das über ihre Hüften fiel, glänzte im Mondschein. Die Decke verbarg ihre silberne Haut.
Gilthanas erhob sich langsam und ging auf sie zu. Sie stand immer noch am Rand des Waldes. Er konnte ihre Furcht spüren. Aber sie hatte das Messer fallen gelassen.
»Silvara«, sagte er, »was ich getan habe, verstößt gegen alle Elfensitten. Als meine Schwester mir ihren Plan mitteilte, die Kugel zu stehlen, hätte ich direkt zu meinem Vater gehen müssen. Ich hätte Alarm schlagen müssen. Ich hätte die Kugel an mich nehmen müssen...«
Silvara trat einen Schritt näher auf ihn zu, die Decke immer noch festhaltend. »Warum hast du es nicht getan?« fragte sie leise.
Gilthanas hatte sich den Felsstufen am nördlichen Ende des Beckens genähert. »Weil ich weiß, daß mein Volk sich irrt. Laurana hat recht. Sturm hat recht. Es ist richtig, die Kugel den Menschen zu bringen! Wir müssen diesen Krieg bekämpfen. Mein Volk ist im Unrecht, ihre Gesetze, ihre Sitten sind Unrecht. Ich weiß es – in meinem Herzen! Aber ich kann es nicht in meinen Kopf kriegen. Es quält mich...«
Silvara ging langsam am Rand des Beckens entlang. Auch sie näherte sich ihm von der gegenüberliegenden Seite.
»Ich verstehe«, sagte sie leise. »Mein eigenes... Volk versteht nicht, was ich tue oder warum ich es tue. Aber ich verstehe es. Ich weiß, was richtig ist, und ich glaube daran.«
»Ich beneide dich, Silvara«, flüsterte Gilthanas.
Gilthanas trat zu dem größten Stein, eine flache Insel im glitzernden, fallenden Wasser. Silvara, deren nasses Haar über ihren Körper fiel wie ein silbernes Gewand, stand jetzt nur noch wenige Meter von ihm entfernt.
»Silvara«, sagte Gilthanas mit bebender Stimme. »Es gab noch einen anderen Grund, warum ich mein Volk verlassen habe. Du kennst ihn.«
Er streckte seine Hand nach ihr aus.
Silvara trat einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. Ihr Atem ging rascher.
Gilthanas trat einen Schritt vor. »Silvara, ich liebe dich«, sagte er leise. »Du scheinst so einsam zu sein, so wie ich. Bitte, Silvara, du wirst nie mehr einsam sein. Ich schwöre dir...«
Zögernd streckte Silvara ihre Hand aus. Mit einer plötzlichen Bewegung ergriff Gilthanas ihren Arm und zog sie über das Wasser. Er fing sie auf, als sie wankte, und hob sie über den Stein zu sich.
Zu spät erkannte die wilde Damhirschkuh, daß sie in der Falle saß. Nicht wegen der Arme des Mannes – sie hätte sich mühelos aus seiner Umarmung befreien können. Es war ihre eigene Liebe zu diesem Mann, in die sie verstrickt war. Daß seine Liebe zu ihr tief und zärtlich war, besiegelte ihr Schicksal.
Auch er saß in der Falle.
Gilthanas spürte ihren Körper zittern, aber er wußte jetzt – als er in ihre Augen sah -, daß sie vor Leidenschaft zitterte, und nicht vor Angst. Er hielt ihr Gesicht in seinen Händen und küßte sie zart. Silvara hielt immer noch die Decke mit einer Hand um ihren Körper zusammen, aber ihr anderer Arm lag eng um Gilthanas. Ihre Lippen waren sanft und erwartungsvoll. Dann schmeckte Gilthanas eine salzige Träne auf seinen Lippen. Er wich zurück, erstaunt, sie weinen zu sehen.
»Silvara, nicht. Es tut mir leid...« Er ließ sie frei.
»Nein!« flüsterte sie, ihre Stimme war heiser. »Ich weine nicht, weil ich mich vor deiner Liebe ängstige. Es ist wegen mir. Du kannst es nicht verstehen.«
Sie legte schüchtern eine Hand um seinen Hals und zog ihn näher. Und dann, als er sie küßte, spürte er ihre andere Hand die Hand, die die Decke festgehalten hatte – sein Gesicht liebkosen.
Silvaras Decke war unbemerkt in den Strom geglitten und wurde vom silbernen Wasser davongetragen.
18
Verfolgung. Ein verzweifelter Plan
Am Mittag des nächsten Tages waren die Gefährten gezwungen, die Boote zu verlassen. Sie hatten das Quellgebiet des Flusses erreicht. Hier war das Gewässer seicht und schaumigweiß von den Stromschnellen. Viele Kaganesti-Boote lagen am Strand. Als sie ihre Boote an das Ufer zogen, trafen die Gefährten auf eine Gruppe von Kaganesti-Elfen, die gerade aus dem Wald kam. Sie trugen die Körper von zwei jungen Elfenkriegern. Einige zogen ihre Waffen und hätten auch angegriffen, wenn Theros Eisenfeld und Silvara sie nicht eilig in ein Gespräch verwickelt hätten.
Die beiden sprachen lange mit den Kaganesti, während die Gefährten nervös den Fluß im Auge behielten. Obwohl sie vor Morgengrauen aufgestanden waren und so früh, wie es die Kaganesti als sicher empfanden, über das schnelle Wasser weitergereist waren, hatten sie mehr als einmal die sie verfolgenden schwarzen Boote erspäht.
Als Theros zurückkehrte, wirkte er niedergeschlagen. Silvara war vor Wut im Gesicht knallrot angelaufen.
»Mein Volk wird uns nicht unterstützen«, berichtete Silvara.
»Sie wurden in den vergangenen zwei Tagen zweimal von den Echsenwesen angegriffen. Sie geben Menschen die Schuld für das Auftauchen dieses neuen Bösen. Sie sollen es mit einem weißgeflügelten Schiff hierhergebracht haben...«
»Das ist lächerlich!« schnappte Laurana. »Theros, hast du ihnen nichts von den Drakoniern gesagt?«
»Ich habe es versucht«, gab der Schmied zurück. »Aber leider spricht alles gegen euch. Die Kaganesti sahen den weißen Drachen über dem Schiff, aber sie sahen offensichtlich nicht, daß ihr ihn vertrieben habt. Wenigstens haben sie sich einverstanden erklärt, uns durch ihr Land reisen zu lassen, aber sie gewähren uns keine Hilfe. Silvara und ich mußten mit unseren Leben für euch bürgen.«
»Was machen die Drakonier hier überhaupt?« fragte Laurana, die wieder von Erinnerungen verfolgt wurde. »Ist es eine Armee? Marschieren sie in das südliche Ergod ein? Wenn ja, sollten wir vielleicht umkehren...«
»Nein, das glaube ich nicht«, sagte Theros nachdenklich.
»Wenn die Armeen der Drachenfürsten bereit wären, die Insel einzunehmen, dann würden sie es mit Scharen von Drachen und Tausenden von Soldaten tun. Es scheint sich eher um kleine Trupps zu handeln, die die sowieso schon schlimme Situation weiter verschlechtern sollen. Die Fürsten hoffen wahrscheinlich, daß die Elfen ihnen den Ärger eines Krieges ersparen, indem sie sich gegenseitig umbringen.«
»Die Drachenfürsten sind für einen Angriff auf Ergod noch nicht bereit«, sagte Derek. »Sie haben noch keinen festen Stand im Norden. Aber das ist nur eine Frage der Zeit. Darum ist es so wichtig, die Kugel der Drachen nach Sankrist zu bringen und das Treffen von Weißstein einzuberufen, damit Entscheidungen getroffen werden.«
Die Gefährten sammelten ihre Ausrüstung zusammen und machten sich für den Landmarsch bereit. Silvara führte sie auf einen Pfad neben dem silbernen Fluß. Sie spürten die feindseligen Augen der Kaganesti auf sich ruhen, bis sie außer Sichtweite waren.
Das Land begann fast sofort anzusteigen. Theros erklärte ihnen, daß er in diesem Gebiet noch nie zuvor gewesen war; es lag also an Silvara, sie zu führen. Laurana war über diese Situation keineswegs erfreut. Sie vermutete, daß zwischen ihrem Bruder und dem Mädchen etwas vorgefallen war, denn sie hatte bemerkt, daß sie ein süßes, geheimes Lächeln austauschten.
Silvara hatte Zeit gefunden, bei ihrem Volk die Kleider zu wechseln. Sie war nun wie eine Kaganesti-Frau gekleidet, in eine lange Ledertunika, in Lederstiefel und einen schweren Fellumhang. Mit ihrem gewaschenen und gekämmten Haar konnten jetzt alle verstehen, wie sie zu ihrem Namen gekommen war. Ihr Haar hatte eine seltsame, metallsilberne Farbe und floß in strahlender Schönheit über ihre Schultern.