Es stellte sich heraus, daß Silvara ein außerordentlich guter Führer war, der sie zu schnellem Tempo drängte. Sie und Gilthanas gingen Seite an Seite und unterhielten sich in der Elfensprache. Kurz vor Sonnenuntergang erreichten sie eine Höhle.
»Hier können wir die Nacht verbringen«, sagte Silvara. »Wir sollten jetzt die Verfolger abgeschüttelt haben. Nur wenige kennen dieses Gebirge so gut wie ich. Aber wir sollten kein Feuer machen. Leider werden wir etwas Kaltes essen müssen.«
Erschöpft vom Tagesmarsch aßen sie trostlos, dann bereiteten sie in der Höhle ihre Lager. Die Gefährten schliefen in ihren Decken und allen verfügbaren Kleidungsstücken, zusammengekauert und unruhig. Sie stellten Wachen auf, Laurana und Silvara bestanden darauf, auch eingeteilt zu werden. Die Nacht verstrich ruhig, das einzige Geräusch war der Wind, der um die Felsen heulte.
Aber am nächsten Morgen quetschte sich Tolpan durch einen Spalt in dem gesicherten Eingang der Höhle, um sich umzuschauen, und kehrte sofort wieder zurück. Er legte einen Finger an die Lippen und machte ihnen Zeichen, ihm nach draußen zu folgen. Theros schob den riesigen Findling beiseite, den sie vor die Höhle gerollt hatten, dann schlichen sie hinter Tolpan her.
Er führte sie zu einer Stelle, nur wenige Meter von der Höhle entfernt, und zeigte grimmig auf den weißen Schnee.
Das waren Fußspuren, so frisch, daß der Schnee sie noch nicht wieder ganz bedeckt hatte. Die leichten Spuren waren kaum in den Schnee eingedrückt. Keiner sprach. Dazu bestand keine Notwendigkeit. Alle erkannten die Umrisse von Elfenstiefeln.
»Sie müssen letzte Nacht hier vorbeigegangen sein«, sagte Silvara. »Wir sollten hier nicht länger bleiben. Sie werden bald entdecken, daß sie unsere Spur verloren haben, und zurückkehren. Bis dahin müssen wir hier verschwunden sein.«
»Ich sehe nicht ein, was das für einen Unterschied machen soll«, grummelte Flint voller Abscheu. Er zeigte auf ihre eigenen äußerst deutlichen Spuren. Dann sah er in den klaren blauen Himmel. »Wir können genausogut hier sitzenbleiben und auf sie warten. Erspart ihnen Zeit und uns Mühen. Wir können unsere Spuren nicht verwischen!«
»Vielleicht können wir unsere Spur nicht verwischen«, sagte Theros, »aber vielleicht können wir einige Meilen Vorsprung herausholen.«
»Vielleicht«, wiederholte Derek grimmig. Er löste sein Schwert aus der Scheide und ging in die Höhle zurück.
Laurana hielt Sturm fest. »Es darf nicht zu einem Blutbad kommen!« flüsterte sie panisch, beunruhigt über Dereks Verhalten.
Der Ritter schüttelte den Kopf, als sie den anderen folgten.
»Wir können nicht zulassen, daß dein Volk uns hindert, die Kugel nach Sankrist zu bringen.«
»Ich weiß«, sagte Laurana leise. Sie senkte den Kopf und betrat schweigend die Höhle. Ihr war elend zumute.
Die anderen waren in wenigen Momenten bereit. Dann stand Derek im Eingang, wütend, und musterte Laurana ungeduldig.
»Geh vor«, sagte sie ihm, sie wollte nicht, daß er sie weinen sah. »Ich komme nach.«
Derek ging sofort. Theros, Sturm und die anderen verließen langsamer die Höhle und warfen Laurana nervöse Blicke zu.
»Geht vor«, wiederholte sie. Sie mußte einen Moment allein sein. Aber sie konnte nur an Dereks Hand an seinem Schwert denken. »Nein!« sagte sie sich streng. »Du wirst nicht gegen dein Volk kämpfen. An dem Tag, an dem das passiert, werden die Drachen gesiegt haben. Du wirst dein Schwert als erste niederlegen...«
Hinter ihrem Rücken hörte sie etwas. Sie wirbelte herum, ihre Hand fuhr instinktiv zum Schwert, dann stockte sie.
»Silvara?« fragte sie erstaunt, als sie das Mädchen im Schatten sah. »Ich dachte, du wärst draußen. Was machst du da?«
Laurana ging schnell zu der Stelle, wo Silvara in der Dunkelheit gekniet hatte und etwas auf dem Höhlenboden getan hatte.
Die Wild-Elfe erhob sich schnell.
»N...nichts«, murmelte Silvara. »Ich habe nur meine Sachen zusammengesucht.«
Hinter Silvara auf dem kalten Boden glaubte Laurana die Kugel der Drachen gesehen zu haben, ihre Kristalloberfläche glänzte in einem seltsamen wirbelnden Licht. Aber bevor sie genauer hinsehen konnte, hatte Silvara schnell ihren Umhang über die Kugel fallen lassen.
»Komm, Laurana«, sagte Silvara, »wir müssen uns beeilen. Es tut mir leid, wenn ich so langsam...«
»Gleich«, sagte Laurana abweisend. Sie wollte an der Wild-Elfe vorbeigehen. Silvaras Hand klammerte sich an ihren Arm.
»Wir müssen uns beeilen!« sagte sie, in ihrer leisen Stimme lag eine Spur von Härte. Ihr Griff an Lauranas Arm war schmerzhaft, selbst durch den dicken Fellumhang.
»Laß mich los«, sagte Laurana kühl und starrte das Mädchen an, ihre grünen Augen zeigten weder Furcht noch Wut. Silvara ließ ihre Hand los und senkte ihren Blick.
Laurana ging zum hinteren Teil der Höhle. Sie sah nach unten, konnte aber nichts erkennen, was einen Sinn ergeben würde. Einige Zweige und verkohltes Holz, einige Steine, aber sonst nichts. Falls das ein Zeichen sein sollte, dann war es ein sehr ungeschicktes. Laurana trat mit ihren Stiefeln dagegen und stieß die Steine und die Hölzchen um. Dann drehte sie sich um und nahm Silvaras Arm.
»Nun«, sagte Laurana in ruhigem, ausgeglichenem Ton.
»Was auch immer du für eine Botschaft für deine Freunde hinterlassen wolltest, sie wird schwierig zu entziffern sein.«
Laurana war auf fast jede Reaktion des Mädchens gefaßt Wut, Schamgefühl, erwischt worden zu sein. Sie erwartete sogar einen Angriff. Aber Silvara begann zu zittern. Ihre Augen als sie Laurana anstarrte – waren bittend, fast klagend. Einen Moment lang versuchte Silvara zu sprechen, aber sie konnte nicht. Sie schüttelte den Kopf, riß sich aus Lauranas Griff frei und lief nach draußen.
»Beeil dich, Laurana!« rief Theros mürrisch.
»Ich komme!« antwortete sie und blickte auf den Höhlenboden. Sie überlegte, ob sie die Gegenstände weiter untersuchen sollte, aber es blieb keine Zeit mehr.
Vielleicht bin ich zu mißtrauisch gegenüber dem Mädchen und das ohne Grund, dachte Laurana mit einem Seufzen, als sie aus der Höhle eilte. Aber dann hielt sie so plötzlich an, daß Theros, der die Nachhut bildete, mit ihr zusammenstieß. Er faßte sie am Arm.
»Alles in Ordnung?« fragte er.
»J...ja«, antwortete Laurana.
»Du siehst blaß aus. Hast du etwas gesehen?«
»Nein. Mir geht es gut«, sagte Laurana eilig und ging weiter.
Was für ein Dummkopf bin ich doch gewesen! Was für Dummköpfe sind wir alle!
Noch einmal sah sie deutlich vor ihrem geistigen Auge, wie Silvara sich erhob und ihren Umhang über die Kugel der Drachen fallen ließ. Die Kugel der Drachen, die mit einem seltsamen Licht strahlte!
Sie wollte gerade Silvara nach der Kugel fragen, als ihre Gedanken plötzlich abgelenkt wurden. Ein Pfeil zischte durch die Luft und bohrte sich in einen Baum dicht neben Dereks Kopf.
»Elfen! Feuerklinge, Angriff!« schrie der Ritter und zog sein Schwert.
»Nein!« Laurana lief nach vorn und packte seinen Schwertarm. »Wir werden nicht kämpfen. Es wird kein Töten geben!«
»Du bist verrückt!« schrie Derek. Wütend riß er sich von Laurana los und schob sie nach hinten zu Sturm.
Ein weiterer Pfeil zischte vorbei.
»Sie hat recht!« sagte Silvara. »Wir können sie nicht bekämpfen. Wir müssen zum Paß! Dort können wir sie aufhalten.«
Ein anderer Pfeil traf das Kettenhemd, das Derek über seiner Ledertunika trug. Er zog ihn verärgert heraus.
»Sie wollen nicht töten«, fügte Laurana hinzu. »Wenn sie es wollten, wärst du schon längst tot. Wir müssen laufen. Wir können hier sowieso nicht kämpfen.« Sie zeigte auf den dichten Wald. »Am Paß können wir uns besser verteidigen.«
»Steck dein Schwert weg, Derek«, sagte Sturm und zog seine Klinge. »Oder du wirst erst gegen mich kämpfen müssen.«
»Du bist ein Feigling, Feuerklinge!« schrie Derek, seine Stimme bebte vor Zorn. »Du rennst vor dem Feind weg!«