»Und jetzt«, murmelte Kitiara schläfrig in Tanis' Armen, »erzähl mir von meinen kleinen Brüdern. Sind sie mit dir zusammen hier? Ich habe sie das letzte Mal in Tarsis gesehen, als ihr mit dieser Elfenfrau auf der Flucht wart.«
»Das warst du!« sagte Tanis und erinnerte sich an die blauen Drachen.
»Natürlich!« Kit kuschelte sich an ihn. »Mir gefällt der Bart«, sagte sie. »Es versteckt diese schwächlichen Elfenmerkmale. Wie bist du in die Armee gekommen?«
Wie eigentlich? fragte sich Tanis verzweifelt.
»Wir... wurden in Silvanesti gefangengenommen. Einer der Offiziere überzeugte mich davon, daß ich ein Narr sei, gegen die D...unkle Königin zu kämpfen.«
»Und meine kleinen Brüder?«
»Wir... wir wurden getrennt«, sagte Tanis schwach.
»Wie schade«, sagte Kit seufzend. »Ich würde sie gern wiedersehen. Caramon muß jetzt ein Riese sein. Und Raistlin... ich habe gehört, er ist ein recht geschickter Magier. Trägt immer noch die Rote Robe?«
»Ich... ich vermute es«, stotterte Tanis. »Ich habe ihn schon läng...«
»Das wird nicht lange dauern«, sagte Kit selbstgefällig. »Er ist mir sehr ähnlich. Raist sehnt sich ständig nach Macht...«
»Was ist mit dir?« unterbrach Tanis schnell. »Was machst du hier, so weit vom eigentlichen Schauplatz entfernt? Im Norden wird gekämpft...«
»Nun, aus dem gleichen Grund wie du«, antwortete Kit und riß ihre Augen auf. »Ich bin natürlich auf der Suche nach dem Hüter des grünen Juwels.«
»Das ist es, von daher kenne ich ihn!« sagte Tanis. Erinnerungen kamen ihm. Der Mann auf der Perechon! Der Mann in Pax Parkas, der mit dem armen Eben entkommen war. Der Mann mit dem grünen Edelstein mitten auf seiner Brust.
»Du hast ihn gefunden!« rief Kitiara und setzte sich interessiert auf. »Wo, Tanis? Wo?« Ihre braunen Augen funkelten.
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Tanis zögernd. »Ich bin mir nicht sicher, ob er es war. Ich... uns wurde nur eine grobe Beschreibung gegeben...«
»Er sieht ungefähr wie fünfzig aus«, sagte Kit aufgeregt, »aber er hat seltsame junge Augen, und seine Hände wirken jugendlich. Und auf seiner Brust ist ein grüner Edelstein. Wir haben Berichte erhalten, daß er in Treibgut gesichtet wurde. Darum hat mich die Dunkle Königin hierher geschickt. Er ist der Schlüssel, Tanis! Wenn wir ihn finden, kann uns keine Macht mehr auf Krynn aufhalten!«
»Warum?« Tanis versuchte, ruhig zu wirken. »Was ist denn an ihm so Wichtiges dran, damit... äh... unsere Seite den Krieg gewinnt?«
»Wer weiß?« Kit zuckte die Achseln und schmiegte sich wieder in Tanis' Arme. »Du zitterst ja. Hier, das wird dich aufwärmen.« Sie küßte seinen Hals und fuhr mit ihren Händen über seinen Körper. »Uns wurde nur gesagt, daß es das wichtigste wäre, diesen Mann zu finden, um diesen Krieg schnell und mühelos zu gewinnen.«
Tanis schluckte, spürte, wie ihn bei ihrer Berührung die Wärme durchflutete.
»Denk doch nur«, flüsterte Kitiara in sein Ohr, ihr Atem war heiß und feucht an seiner Haut, »wenn wir ihn finden – du und ich – würde uns ganz Krynn zu Füßen liegen! Die Dunkle Königin würde uns mit allem belohnen, wovon wir nie zu träumen gewagt haben! Du und ich, für immer vereint, Tanis.«
Ihre Worte hallten in seinem Gehirn wider. Sie beide, zusammen, für immer. Den Krieg beenden. Krynn beherrschen.
Nein, dachte er, seine Kehle zog sich zusammen. Das ist Wahnsinn! Verrückt! Mein Volk, meine Freunde... Dennoch, habe ich nicht schon genug getan? Was schulde ich ihnen, Menschen und Elfen? Nichts! Sie sind diejenigen, die mich verletzt haben, mich verspottet haben! All diese Jahre – ein Ausgestoßener! Warum über sie nachdenken? Ich! Es wird Zeit, daß ich an mich denke! Da ist die Frau, von der ich seit langem träume. Und sie kann mir gehören! Kitiara... so schön, so begehrenswert ...
»Nein!« sagte Tanis barsch, dann wiederholte er sanfter: »Nein.« Er ergriff ihre Hand und zog sie an sich. »Morgen reicht auch. Wenn er es war, kann er sowieso nirgendwo hingehen. Ich weiß...«
Kitiara lächelte und legte sich seufzend zurück. Tanis beugte sich über sie und küßte sie leidenschaftlich. Weit entfernt konnte er die Wellen des Blutmeers von Istar gegen den Strand schlagen hören.
10
Der Turm des Oberklerikers. Der Ritterschlag
Gegen Morgen verebbte der Sturm über Solamnia.
Die Sonne ging auf – eine blaßgoldene Scheibe, die nichts wärmte. Die Ritter, die auf den Zinnen des Turms des Oberklerikers Wache gestanden hatten, suchten dankbar ihre Schlafstätten auf und unterhielten sich über diese Sensation, denn solch einen Sturm hatte es seit den Tagen nach der Umwälzung in Solamnia nicht mehr gegeben. Die anderen Ritter, die zur Wachablösung erschienen, waren genauso müde; niemand hatte geschlafen. Jetzt sahen sie auf eine mit Schnee und Eis bedeckte Ebene.
Hier und dort flackerten Flammen auf, wo Bäume, von Blitzen getroffen, brannten. Aber es waren nicht diese seltsamen Flammen, auf die die Augen der Ritter gerichtet waren, als sie auf die Zinnen stiegen. Es waren die Flammen am Horizont Hunderte und Hunderte von Flammen, die die klare, kalte Luft mit einem widerlichen Rauch erfüllten.
Die Lagerfeuer des Krieges. Die Lagerfeuer der Drachenarmee.
Ein »Ding« stand zwischen dem Drachenfürsten und dem Sieg in Solamnia. Dieses Ding (so nannte es der Fürst meistens) war der Turm des Oberklerikers.
Vor langer Zeit von Vinas Solamnus, dem Begründer des Rittertums, am einzigen Paß durch die schneebedeckten, wolken-umhangenen Vingaard-Berge errichtet, beschützte der Turm Palanthas, die Hauptstadt von Solamnia, und den Hafen, bekannt als die Tore von Paladin. Wenn der Turm fiel, würde Palanthas den Drachenarmeen gehören. Es war eine leicht einzunehmende Stadt – eine reiche und schöne Stadt, die sich von der Welt abgewendet hatte, um mit bewundernden Augen in den eigenen Spiegel zu sehen.
Wenn Palanthas in seine Hände und der Hafen unter seiner Kontrolle fiel, konnte der Fürst mühelos das restliche Solamnia bis zur Unterwerfung aushungern lassen und die lästigen Ritter ausmerzen.
Die Drachenfürstin, von ihren Soldaten Finstere Herrin gerufen, war heute nicht im Lager. Sie befand sich wegen geheimer Geschäfte im Osten. Aber sie hatte loyale und fähige Befehlshaber zurückgelassen, Befehlshaber, die alles tun würden, um ihre Gunst zu gewinnen.
Von allen Drachenfürsten stand die Finstere Herrin in der Wertschätzung der Dunklen Königin am höchsten. Und so saßen die Drakonier, Goblins, Hobgoblins, Oger und Menschen an ihren Lagerfeuern und starrten mit hungrigen Augen auf den Turm, sehnten sich danach, anzugreifen und ihr Lob zu ernten.
Der Turm wurde von einer großen Garnison von Rittern von Solamnia verteidigt, die nur wenige Wochen zuvor aus Palanthas anmarschiert war. In der Legende hieß es, daß der Turm niemals fallen würde, solange Männer mit Glauben ihn halten würden, da er dem Oberkleriker gewidmet war – eine Position, die nach dem Großmeister die begehrteste in der Ritterschaft war.
Die Kleriker von Paladin hatten im Zeitalter der Träume im Turm des Oberklerikers gelebt. Hierher kamen die jungen Ritter für ihre religiöse Ausbildung und Lehre. Immer noch gab es viele Spuren, die die Kleriker zurückgelassen hatten.
Es war nicht nur die Furcht vor dieser Legende, die die Drachenarmee zwang, untätig herumzusitzen. Man brauchte keine Legende, um den Befehlshabern klarzumachen, daß das Einnehmen des Turms sehr große Opfer verlangen würde.
»Die Zeit arbeitet für uns«, hatte die Finstere Herrin vor ihrer Abreise erklärt. »Unsere Kundschafter berichten, daß die Ritter wenig Hilfe von Palanthas erhalten haben. Wir schneiden die Versorgung von der Vingaard-Burg zum Osten ab. Laß sie in ihren Turm sitzen und verhungern. Früher oder später werden sie aus Ungeduld und durch ihren Hunger Fehler machen. Dann werden wir bereit sein.«