»Tolpan, was ist los?« fragte Laurana beunruhigt.
»Es ist alles meine Schuld! Eine habe ich schon zerbrochen! Bin ich denn verdammt, in der Welt herumzulaufen und diese Dinge zu zerbrechen?« wimmerte Tolpan wirr.
»Beruhige dich«, sagte Sturm streng. Er schüttelte den Kender. »Wovon redest du überhaupt?«
»Ich habe noch eine gefunden«, blubberte Tolpan. »Ganz unten in einer großen, leeren Kammer.«
»Noch eine was, du Dummkopf?« fragte Flint wütend.
»Noch eine Kugel der Drachen!« plärrte Tolpan.
Die Nacht legte sich wie ein dichter, schwerer Nebel über den Turm. Die Ritter hielten schweigsam Wache auf den Zinnen, strengten sich an, etwas zu hören oder zu sehen – irgend etwas ...
Dann, es war schon fast Mitternacht, zuckten sie zusammen, als sie etwas hörten, nicht die siegreichen Rufe ihrer Kameraden oder die flachen, gellenden Hörner des Feindes, sondern das Klingeln von Pferdegeschirr, das leise Wiehern von Pferden, die sich der Festung näherten.
Die Ritter eilten zum Rand der Zinnen und hielten die Fakkeln nach unten in den Nebel. Langsam kamen die Hufschläge zum Halten.
Sturm stand innen am Tor. »Wer reitet zum Turm des Oberklerikers?« rief er.
Eine einzige Fackel flackerte auf. Laurana, die in die neblige Dunkelheit starrte, fühlte ihre Knie schwach werden und klammerte sich an die Steinwand. Die Ritter schrien entsetzt auf.
Der Reiter, der die Fackel hielt, war in die glänzende Rüstung eines Offiziers der Drachenarmee gekleidet. Er war blond, seine Gesichtszüge waren gutaussehend, kalt und grausam. Er führte ein zweites Pferd mit sich, über das zwei Körper geworfen waren – einer von ihnen war ohne Kopf, der andere blutig und entstellt.
»Ich habe deine Offiziere zurückgebracht«, sagte der Mann, seine Stimme klang barsch und schmetternd. »Einer ist tot, wie du sehen kannst. Aber der andere lebt wohl noch. Oder lebte jedenfalls, bevor ich losritt. Ich hoffe, er lebt noch, damit er dir erzählen kann, was sich heute auf dem Schlachtfeld zugetragen hat, wenn man es überhaupt als Schlacht bezeichnen kann.«
Im Licht seiner Fackel stieg der Offizier vom Pferd. Er begann, die Körper abzubinden. Dann blickte er hoch.
»Ja, ihr könntet mich jetzt töten. Ich stelle ein gutes Ziel dar, selbst im Nebel. Aber das werdet ihr nicht. Ihr seid Ritter von Solamnia«, sein Sarkasmus war beißend. »Die Ehre ist euer Leben. Ihr würdet nicht auf einen unbewaffneten Mann schießen, der die Körper eurer Führer zurückbringt.« Er zerrte an den Seilen. Der Körper ohne Kopf glitt zu Boden. Der Offizier zog den anderen Körper aus dem Sattel. Er warf die Fackel in den Schnee neben die Körper. Sie zischte und erlosch, und die Dunkelheit verschluckte den Mann.
»Draußen auf dem Feld habt ihr ein Übermaß an Ehre«, rief er. Die Ritter konnten das Leder knirschen und seine Rüstung klimpern hören, als er sein Pferd bestieg. »Ich gebe euch bis morgen Zeit, um euch zu ergeben. Wenn die Sonne aufgeht, holt eure Flagge ein. Die Drachenfürstin wird gnädig mit euch verhandeln...«
Plötzlich spannte sich ein Bogen, ein Pfeil surrte durch die Luft und traf auf Fleisch. Von unten hörte man ein erschrockenes Fluchen. Die Ritter drehten sich um und starrten erstaunt auf eine einsame Gestalt an der Mauer mit einem Bogen in der Hand.
»Ich bin kein Ritter«, rief Laurana und senkte ihren Bogen.
»Ich bin Lauralanthalasa, Tochter der Qualinesti. Wir Elfen haben unseren eigenen Ehrenkodex, und du weißt sicherlich, daß ich dich ganz gut in der Dunkelheit erkennen kann. Ich hätte dich töten können. So wie es aussieht, wirst du wohl lange Zeit deinen Arm nur wenig benutzen können. In der Tat wirst du niemals wieder ein Schwert halten können.«
»Das ist unsere Antwort an deine Fürstin«, sagte Sturm barsch. »Eher werden wir tot in der Kälte liegen, als unsere Flagge einzuholen!«
»Das werdet ihr in der Tat!« sagte der Offizier mit zusammengepreßten Zähnen. Die galoppierenden Hufe verloren sich in der Dunkelheit.
»Holt sie herein«, befahl Sturm.
Vorsichtig öffneten die Ritter die Tore. Einige eilten hervor, um die anderen zu decken, die behutsam die Körper anhoben und sie hineintrugen. Dann zog sich die Wache in die Festung zurück und verschloß die Tore hinter sich.
Sturm kniete im Schnee neben dem Körper des geköpften Ritters. Er hob den Arm des Mannes und zog einen Ring von den steifen kalten Fingern ab. Die Rüstung des Ritters war zerbeult und schwarz von Blut. Er ließ die leblose Hand wieder in den Schnee fallen und senkte seinen Kopf: »Fürst Alfred«, sagte er tonlos.
»Herr«, sagte einer der jungen Ritter, »der andere ist Fürst Derek. Der dreckige Drachenoffizier hatte recht – er lebt noch.«
Sturm erhob sich und ging zu Derek, der auf den kalten Steinen lag. Das Gesicht des Fürsten war weiß, seine Augen weit aufgerissen und fiebrig glänzend. Blut klebte an seinen Lippen, seine Haut war feuchtkalt. Einer der jungen Ritter stützte ihn und hielt einen Becher Wasser an seine Lippen, aber Derek konnte nicht trinken.
Sturm wurde übel vor Entsetzen, als er sah, daß Derek seine Hand auf seinen Bauch gedrückt hielt, aus dem das Blut quoll, aber nicht schnell genug, um seine Todesqualen zu beenden.
Derek warf Sturm ein grausiges Lächeln zu und umklammerte seinen Arm mit einer blutigen Hand.
»Sieg!« krächzte er. »Sie liefen vor uns, und wir verfolgten sie! Es war glorreich, glorreich! Und ich... ich werde Großmeister!« Er würgte, Blut spritzte aus seinem Mund, als er wieder in die Arme des jungen Ritters fiel, der hoffnungsvoll zu Sturm hochblickte.
»Glaubt Ihr, daß er in Ordnung ist? Vielleicht war das eine List...« Seine Stimme erstarb beim Anblick von Sturms düsterem Gesicht, und er sah mit Mitleid auf Derek nieder. »Er ist verrückt, nicht?«
»Er stirbt – mutig – wie ein wahrer Ritter«, sagte Sturm.
»Sieg!« wisperte Derek, dann wurden seine Augen starr und blickten, ohne zu sehen, in den Nebel.
»Nein, du darfst sie nicht zerbrechen«, sagte Laurana.
»Aber Fizban hat gesagt...«
»Ich weiß, was er gesagt hat«, erwiderte Laurana ungeduldig. »Sie ist nicht böse, sie ist nicht gut, sie ist nichts, sie ist alles. Das«, murmelte sie, »sieht Fizban ähnlich!«
Sie stand mit Tolpan vor der Kugel der Drachen. Die Kugel ruhte auf ihrem Ständer mitten im kreisrunden Raum. Der Raum war dunkel und auf unheimliche Weise still, so still, daß Tolpan und Laurana sich veranlaßt fühlten zu flüstern.
Laurana starrte nachdenklich auf die Kugel. Tolpan starrte Laurana unglücklich an, weil er wußte, was sie dachte.
»Diese Kugeln müssen funktionieren, Tolpan!« sagte Laurana schließlich. »Sie wurden von mächtigen Magiern geschaffen! Von Leuten wie Raistlin, die keine Fehler tolerieren. Wenn wir nur wüßten, wie...«
»Ich weiß wie«, sagte Tolpan mit gebrochener Stimme.
»Was?« fragte Laurana. »Du weißt es! Warum hast du nicht...«
»Ich wußte nicht, daß ich es wußte – sozusagen«, stammelte Tolpan. »Es ist mir gerade eingefallen. Gnosch, der Gnom, erzählte mir, daß er in der Kugel eine Schrift entdeckt hat, Buchstaben, die im Nebel herumschwirren. Er konnte sie nicht lesen, weil sie in einer seltsamen Sprache geschrieben waren...«
»Die Sprache der Magie.«
»Ja, das sagte ich auch und...«
»Aber das hilft uns nicht weiter! Keiner von uns kann diese Sprache. Wenn nur Raistlin...«
»Wir brauchen Raistlin nicht«, unterbrach Tolpan. »Ich kann sie zwar nicht sprechen, aber ich kann sie lesen. Verstehst du, ich habe diese Gläser – die Augengläser des Wahren Blicks, so hat Raistlin sie genannt. Mit ihnen kann ich alle Sprachen lesen --- sogar die Sprache der Magie. Ich weiß das, weil er mir gesagt hat, wenn er mich beim Lesen seiner Bücher erwischte, würde er mich in eine Grille verwandeln und verschlingen.«
»Und du glaubst, daß du die Schrift in der Kugel lesen kannst?«
»Ich kann es versuchen«, wich Tolpan aus, »aber, Laurana, Sturm hat gesagt, daß wahrscheinlich keine Drachen kommen würden. Warum sollten wir dann das Risiko mit der Kugel eingehen. Fizban hat gesagt, daß nur die mächtigsten Magier wagen, sie zu benutzen.«