»Hör mir zu, Tolpan Barfuß«, sagte Laurana und kniete sich neben den Kender und sah ihm direkt in die Augen. »Wenn sie auch nur einen Drachen hierher schicken, sind wir erledigt. Darum haben sie uns Zeit gelassen, uns zu ergeben, anstatt den Turm zu stürmen. Sie brauchen diese Zeit, um die Drachen zu holen. Wir müssen diese Chance wahrnehmen!«
Ein dunkler Weg und ein leichter Weg, erinnerte sich Tolpan an Fizbans Worte und ließ den Kopf hängen. Tod für jene, die du liebst, aber du hast den Mut.
Langsam griff Tolpan in die Tasche seiner Wollweste, holte die Brille hervor und legte die Bügel über seine spitzen Ohren.
13
Die Sonne geht auf. Dunkelheit bricht herein
Der Nebel hob sich mit der Morgendämmerung.
Der Tag brach hell und klar an – so klar, daß Sturm von den Zinnen das schneebedeckte Grasland seines Geburtsortes in der Nähe der Vingaard-Burg erkennen konnte – ein Land, das nun völlig von den Drachenarmeen kontrolliert wurde. Die ersten Sonnenstrahlen schienen auf die Flagge der Ritter. Das goldene Emblem glitzerte im Morgenlicht. Dann hörte Sturm die rauhen, schmetternden Hörner.
Die Drachenarmee marschierte auf den Turm zu.
Die jungen Ritter – ungefähr hundert an der Zahl – standen schweigend auf den Zinnen und beobachteten die riesige Armee, die mit der Unermüdlichkeit gieriger Insekten über das Land kroch.
Anfangs hatte sich Sturm über die Worte des sterbenden Ritters gewundert. »Sie liefen vor uns!« Warum war die Drachenarmee gerannt? Dann verstand er: Die Drakonier hatten sich die Prahlerei der Ritter in einem uralten, jedoch simplen Manöver zunutze gemacht. Sich vor dem Feind zurückziehen... nicht zu schnell, aber daß es den Anschein hat, die vorderen Reihen würden sich fürchten. Laß den Eindruck entstehen, daß sie in Panik ausbrechen. Laß deinen Feind ruhig angreifen. Dann arbeiten sich deine Armeen heran, umzingeln ihn und schneiden ihn in Stücke.
Sturm brauchte sich die Leichname nicht anzusehen – die in der Ferne im niedergetrampelten blutigen Schnee kaum sichtbar waren -, um zu erkennen, daß er die Lage richtig beurteilt hatte.
Sie lagen dort, wo sie verzweifelt versucht hatten, sich neu zu gruppieren. Es war jetzt gleichgültig, wie sie gestorben waren.
Er fragte sich nur, wer auf seinen Körper sehen würde, wenn alles vorüber war.
Flint spähte durch einen Spalt in der Mauer. »Zumindest werde ich im Trockenen sterben«, murrte der Zwerg.
Sturm lächelte leicht und strich sich seinen Schnurrbart. Seine Augen wanderten nach Osten. Als er über das Sterben nachdachte, sah er auf das Land, in dem er geboren worden war eine Heimat, die er kaum kannte, ein Vater, an den er sich kaum erinnerte, ein Volk, das seine Familie ins Exil getrieben hatte.
Und jetzt gab er sein Leben, um dieses Land zu verteidigen.
Warum? Warum ging er nicht einfach nach Palanthas zurück?
Sein ganzes Leben lang hatte er den Kodex und den Maßstab befolgt. Der Kodex: Est Sularus oth Mithas – Die Ehre ist mein Leben. Der Kodex war das einzige, was ihm noch geblieben war. Der Maßstab hatte versagt. Rigide, unflexibel, hatte der Maßstab die Ritter in Stahl eingeschlossen, der schwerer und dicker war als ihre Rüstungen. Die Ritter, im Überlebenskampf isoliert, hatten sich verzweifelt an den Maßstab geklammert --- und nicht bemerkt, daß er ein Anker war, der sie nach unten zog.
Warum bin ich anders, fragte sich Sturm. Aber er wußte die Antwort. Es lag an dem Zwerg, dem Kender, dem Magier, dem Halb-Elf... Sie hatten ihn gelehrt, die Welt durch andere Augen zu sehen: Schlitzaugen, kleinere Augen, sogar Stundenglasaugen. Ritter wie Derek sahen die Welt nur schwarz und weiß.
Sturm hatte die Welt in all ihren Farben gesehen.
»Es ist Zeit«, sagte er zu Flint. Die beiden stiegen von dem hohen Aussichtspunkt hinunter, gerade als die ersten Giftpfeile des Feindes über die Mauern surrten.
Kreischend und gellend, mit schmetternden Hörnern und klirrenden Schildern und Schwertern griff die Drachenarmee den Turm des Oberklerikers an, als das schwache Sonnenlicht den Himmel erfüllte.
Bei Abendanbruch flatterte die Flagge noch. Der Turm stand. Aber die Hälfte seiner Verteidiger war tot.
Die Lebenden hatten den ganzen Tag keine Zeit gehabt, die starren Augen der Gefallenen zu schließen oder die verzerrten, im Todeskampf erstarrten Glieder zu richten. Ruhe kam erst mit der Nacht, als sich die Drachenarmee zurückzog.
Sturm schritt auf den Zinnen, sein Körper schmerzte vor Müdigkeit. Jedoch immer wenn er versuchte, sich auszuruhen, zuckten angespannte Muskeln, und sein Gehirn schien zu brennen. Und so ging er umher – vor und zurück, vor und zurück mit langsamen, gemessenen Schritten. Er konnte nicht wissen, daß sein fester Gang das Entsetzen des Tages aus den Gedanken der jungen Ritter vertrieb. Ritter im Hof, die die Körper ihrer Freunde und Kameraden aufbahrten und dachten, daß am nächsten Tag ein anderer das für sie selbst tun würde, hörten Sturms festen Schritt und spürten ihre Angst vor dem nächsten Tag schwinden.
Sein Auf- und Abgehen schien alle zu beruhigen, nur ihn selbst nicht. Sturms Gedanken waren düster und quälend: Gedanken an Niederlage; Gedanken an unehrenhaftes Sterben; marternde Erinnerungen an den Traum: sein Körper von den elenden Kreaturen zerhackt und verstümmelt. Würde der Traum sich bewahrheiten? Würde er am Ende versagen, unfähig, die Angst zu bekämpfen? Würde der Kodex ihn im Stich lassen, so wie der Maßstab?
Stapf... stapf... stapf... stapf...
Hör auf! sagte sich Sturm wütend. Du bist bald genauso verrückt wie der arme Derek. Er drehte sich abrupt um und sah sich Laurana gegenüber. Seine Augen trafen ihre, und die düsteren Gedanken hellten sich auf. Solange solch ein Friede und solch eine Schönheit existierten, bestand in dieser Welt Hoffnung. Er lächelte sie an, und sie lächelte zurück – ein angespanntes Lächeln, aber es wischte Müdigkeit und Sorge aus ihrem Gesicht.
»Ruh dich aus«, sagte er ihr. »Du siehst erschöpft aus.«
»Ich habe zu schlafen versucht«, murmelte sie, »aber ich hatte fürchterliche Träume – Hände in Kristall eingeschlossen, riesige Drachen, die durch Steinkorridore fliegen.« Dann hockte sie sich erschöpft in eine windgeschützte Ecke.
Sturms Blick fiel auf Tolpan, der neben ihr lag. Der Kender schlief fest, zu einer Kugel eingerollt. Sturm sah ihn lächelnd an. Nichts konnte Tolpan erschüttern. Der Kender hatte wahrhaftig einen glorreichen Tag erlebt – einen Tag, der ewig in seiner Erinnerung leben würde.
»Ich war noch nie bei einer Belagerung dabei gewesen«, hatte Sturm Tolpan dem Zwerg anvertrauen gehört, nur Sekunden bevor Flint mit seiner Streitaxt einen Goblin geköpft hatte.
»Du weißt, daß wir alle sterben werden«, hatte Flint geknurrt und das schwarze Blut von seiner Klinge gewischt.
»Das hast du schon gesagt, als wir diesem schwarzen Drachen in Xak Tsaroth gegenüberstanden«, hatte Tolpan erwidert.
»Dann hast du das gleiche in Thorbadin gesagt, und dann im Boot...«
»Dieses Mal werden wir sterben!« hatte Flint vor Zorn gebrüllt. »Und wenn ich dich töten muß!«
Aber sie waren nicht gestorben – zumindest nicht heute. Aber es gibt immer noch das Morgen, dachte Sturm, während sein Blick auf den Zwerg fiel, der an einer Mauer lehnte und an einem Holzstück schnitzte.
Flint sah auf. »Wann geht es los?« fragte er.
Sturm seufzte, sein Blick wanderte zum östlichen Himmel.
»Morgendämmerung«, antwortete er. »In wenigen Stunden.«
Der Zwerg nickte. »Können wir durchhalten?« Seine Stimme klang sachlich, die Hand am Holz war fest und beständig.
»Wir müssen«, erwiderte Sturm. »Der Bote wird heute nacht Palanthas erreichen. Wenn sie sofort handeln, erreichen sie uns nach einem zweitägigen Marsch. Wir müssen ihnen zwei Tage geben...«