»Wenn sie sofort handeln?« wiederholte Flint knurrend.
»Ich weiß...«, sagte Sturm leise und seufzte. »Du solltest gehen«, wandte er sich an Laurana. »Geh nach Palanthas. Überzeuge sie von der Gefahr.«
»Dein Bote muß das tun«, sagte Laurana müde. »Wenn er es nicht schafft, wird auch mein Wort sie nicht umstimmen.«
»Laurana«, begann er.
»Brauchst du mich?« fragte sie abrupt. »Kannst du mich hier gebrauchen?«
»Das weißt du selbst«, antwortete Sturm. Er hatte während des Kampfs über die unermüdliche Stärke, den Mut und die Geschicklichkeit des Elfenmädchens gestaunt.
»Dann bleibe ich«, sagte Laurana einfach. Sie wickelte sich in ihre Decke und schloß die Augen. »Ich kann nicht schlafen«, flüsterte sie. Aber innerhalb weniger Minuten kam ihr Atem genauso regelmäßig und leise wie der des schlummernden Kenders.
Sturm schüttelte den Kopf und schluckte. Sein Blick traf Flints. Der Zwerg seufzte und widmete sich wieder seiner Schnitzerei. Keiner sprach, aber beide dachten das gleiche. Sie würde einen schlimmen Tod erleiden, wenn die Drakonier den Turm erobern würden. Lauranas Tod könnte ein Alptraum sein.
Der Himmel im Osten war hell und kündete den Sonnenaufgang an, als die Ritter von den schmetternden Hörnern aus ihrem unruhigen Schlaf gerissen wurden. Hastig erhoben sie sich und griffen nach ihren Waffen, stellten sich an die Mauern und spähten auf das düstere Land.
Die Lagerfeuer der Drachenarmee brannten schwach und gingen langsam bei Tagesanbruch aus. Sie konnten hören, wie Leben in das Lager kam. Die Ritter umklammerten ihre Waffen und warteten. Dann sahen sie sich verwundert an.
Die Drachenarmee zog sich zurück! Obwohl in der Dunkelheit nur schwach zu erkennen, war es offensichtlich, daß sich die schwarze Welle langsam zurückzog. Sturm beobachtete es verwirrt. Die Armee marschierte hinter den Horizont zurück.
Aber sie waren immer noch da, das wußte Sturm. Er spürte sie.
Einige der jüngeren Ritter begannen zu jubeln.
»Seid ruhig!« befahl Sturm barsch. Ihre Rufe zerrten an seinen angespannten Nerven. Laurana stellte sich neben ihn und sah ihn erstaunt an. Sein Gesicht war im flackernden Fackellicht grau und eingefallen. Seine Fäuste ballten sich nervös.
Seine Augen verengten sich, als er sich nach vorn beugte und in den Osten starrte.
In Laurana kroch mit der Furcht die Kälte hoch. Sie erinnerte sich, was sie Tolpan gesagt hatte.
»Ist es das, was wir befürchtet haben?« fragte sie und legte ihre Hand auf seinen Arm.
»Bete, daß wir uns irren!« sagte er leise mit gebrochener Stimme.
Minuten verstrichen. Nichts passierte. Flint kam zu ihnen und kletterte auf einen zerbrochenen Mauerteil, um über den Mauerrand zu sehen. Tolpan wurde wach und gähnte.
»Wann gibt es Frühstück?« fragte er fröhlich, aber niemand beachtete ihn.
Sie beobachteten und warteten. Jetzt spürten alle Ritter die Furcht in sich aufsteigen, stellten sich an die Mauern und starrten gen Osten, ohne den Grund dafür zu wissen.
»Was ist los?« wisperte Tolpan. Er kletterte zu Flint hoch. Er sah ein kleines rotes Stückchen von der Sonne am Horizont brennen, sein orangefarbenes Feuer färbte den nächtlichen Himmel purpurrot und löschte die Sterne aus.
»Worauf sehen wir?« fragte Tolpan und stieß Flint an.
»Nichts«, knurrte Flint.
»Aber warum gucken wir dann...« Der Kender hielt seinen Atem an. »Sturm...«, stammelte er mit bebender Stimme.
»Was ist?« fragte der Ritter und drehte sich beunruhigt um.
Tolpan starrte weiter. Die anderen folgten seinem Blick, aber ihre Augen waren nicht so gut wie die des Kenders.
»Drachen...«, antwortete Tolpan. »Blaue Drachen.«
»Das dachte ich mir«, sagte Sturm leise. »Die Drachenangst. Darum haben sie ihre Armee zurückgezogen. Die Menschen in ihrer Armee könnten nicht widerstehen. Wie viele Drachen?«
»Drei«, antwortete Laurana. »Ich kann sie jetzt auch sehen.«
»Drei«, wiederholte Sturm mit leerer, ausdrucksloser Stimme.
»Hör zu, Sturm!« Laurana zog ihn zur Mauer zurück. »Ich... wir... wollten nichts sagen. Es spielte keine Rolle, aber jetzt ist es doch wichtig. Tolpan und ich wissen, wie man die Kugel der Drachen benutzt!«
»Kugel der Drachen?« murmelte Sturm, der nicht richtig zuhörte.
»Die Kugel ist hier, Sturm!« redete sie unbeirrt weiter, ihre Hände umklammerten ihn. »Unten im Turm. Tolpan hat sie mir gezeigt. Drei lange und breite Korridore führen zu ihr... und...«
Ihre Stimme erstarb. Plötzlich sah sie, so lebendig wie in dem Traum in der Nacht, Drachen durch Steinkorridore fliegen...
»Sturm!« schrie sie und schüttelte ihn aufgeregt. »Ich weiß, wie die Kugel funktioniert! Ich weiß, wie man die Drachen tötet! Wenn wir jetzt Zeit haben...«
Sturm hielt sie fest, seine starken Hände packten sie bei den Schultern. In all den Monaten, seitdem er sie kannte, hatte er sie noch nie so schön gesehen. Ihr Gesicht, blaß vor Erschöpfung, strahlte vor Aufregung.
»Erzähl mir, schnell!« befahl er.
Laurana erklärte ihm, die Worte sprudelten aus ihr heraus, und der Plan wurde ihr selbst klarer, während sie ihm alles erzählte. Flint und Tolpan beobachteten die beiden, das Gesicht des Zwerges war entsetzt, das Gesicht des Kenders bestürzt.
»Wer wird die Kugel anwenden?« fragte Sturm langsam.
»Ich«, erwiderte Laurana.
»Aber Laurana«, schrie Tolpan, »Fizban hat gesagt...«
»Tolpan, halt den Mund!« zischte Laurana durch ihre zusammengepreßten Zähne. »Bitte, Sturm!« drängte sie. »Es ist unsere einzige Hoffnung. Wir haben die Drachenlanzen – und die Kugel der Drachen!«
Der Ritter sah sie an, dann sah er zu den Drachen, die aus dem immer heller werdenden Osten herbeieilten.
»Nun gut«, sagte er schließlich. »Flint und Tolpan, ihr geht nach unten und versammelt die Männer im Hof. Beeilt euch!«
Tolpan warf Laurana einen letzten besorgten Blick zu, dann sprang er von dem Mauerstück, auf dem er und der Zwerg gestanden hatten. Flint folgte ihm langsam. Sein Gesicht war düster und nachdenklich, als er zu Sturm trat.
Mußt du das tun? fragte Flint Sturm stumm, als sich ihre Blicke trafen.
Sturm nickte einmal. Er blickte zu Laurana und lächelte traurig. »Ich werde es ihr sagen«, sagte er leise. »Paß auf den Kender auf. Leb wohl, mein Freund.«
Flint schluckte und schüttelte den Kopf. Sein Gesicht war eine Maske der Trauer, als er mit einer knorrigen Hand über seine Augen fuhr, dann gab er Tolpan einen Stoß in den Rücken.
»Beweg dich!« schnappte der Zwerg.
Tolpan sah ihn erstaunt an, dann zuckte er die Achseln und hüpfte über die Zinnen und schrie mit seiner schrillen Stimme nach den überraschten Rittern.
Lauranas Gesicht glühte. »Komm auch, Sturm!« sagte sie und zog an ihm wie ein Kind, das seinen Eltern ein neues Spielzeug zeigen will. »Ich erkläre es den Männern, wenn du möchtest. Dann kannst du die Befehle geben und die Schlachtanordnung festlegen...«
»Du führst das Kommando, Laurana«, sagte Sturm.
»Was?« Laurana hielt inne, Furcht fuhr so plötzlich in ihr Herz, daß der Schmerz sie aufkeuchen ließ.
»Du hast gesagt, du brauchtest Zeit«, sagte Sturm und richtete seinen Schwertgürtel, um ihrem Blick auszuweichen. »Du hast recht. Du mußt die Männer in Position bringen. Du brauchst Zeit für die Kugel. Ich werde dir diese Zeit geben.« Er hob einen Bogen und einen Köcher mit Pfeilen auf.
»Nein! Sturm!« Laurana zitterte vor Entsetzen. »Das kann nicht dein Ernst sein! Ich kann nicht befehlen! Ich brauche dich! Sturm, tu mir das nicht an!« Ihre Stimme erstarb zu einem Wispern. »Tu mir das nicht an.«
»Du kannst befehlen, Laurana«, sagte Sturm und nahm ihren Kopf in seine Hände. Er beugte sich vor und küßte sie sanft.
»Leb wohl, Elfenmädchen«, sagte er leise. »Dein Licht wird in dieser Welt scheinen. Meine Zeit ist gekommen. Sei nicht traurig, meine Liebe. Weine nicht.« Er hielt sie fest. »Der Herr der Wälder sagte uns im Düsterwald, daß wir nicht um jene trauern sollen, die ihr Schicksal erfüllt haben. Mein Schicksal ist erfüllt. Jetzt beeil dich, Laurana. Du brauchst jede Sekunde.«