»Ganz nahe am Essen«, murrte Flint in seinen Bart. Die anderen schauten unbehaglich auf die Stühle, die seltsamen Kristallwanzenlampen und die Zentauren. Die Tochter des Stammeshäuptlings jedoch wußte, wie man sich als Gast zu benehmen hatte. Obwohl die Außenwelt ihr Volk als Barbaren betrachtete, verfügte Goldmonds Stamm über strenge Regeln der Höflichkeit, die gewissenhaft befolgt wurden. Goldmond wußte, daß es eine Beleidigung für den Gastgeber war, wenn man ihn warten ließ. Sie ließ sich mit königlicher Anmut nieder. Der einbeinige Stuhl schaukelte leicht, paßte sich dann ihrem Gewicht an, als wäre er nur für sie hergestellt worden. »Setz dich an meine rechte Seite, Kämpfer«, sagte sie förmlich, sich der vielen Augen bewußt, die auf ihr ruhten. Flußwinds Gesicht zeigte keinerlei Gefühlsbewegung, obwohl es ein absurder Anblick war, als er versuchte, mit seinem riesigen Körper auf dem scheinbar zerbrechlichen Stuhl Platz zu nehmen. Aber dann lehnte er sich behaglich zurück und lächelte fast ungläubig.
»Danke, daß ihr so lange gewartet habt, bis ich sitze«, sagte Goldmond hastig, um das Zögern der anderen zu überdecken. »Nun könnt ihr Platz nehmen.«
»Oh, es ist alles in Ordnung«, begann Caramon und legte seine Arme über die Brust. »Ich habe nicht gewartet. Ich werde nicht auf diesem komischen Stuhl sitzen...« Sturms Ellbogen bohrte sich tief in Caramons Rippen.
»Edle Dame«, Sturm verbeugte sich und setzte sich mit ritterlicher Würde. »Na schön, wenn er es kann, dann kann ich es erst recht«, murmelte Caramon. Dabei wurde seine Entscheidung durch die Tatsache beschleunigt, daß die Zentauren das Essen brachten. Er half seinem Bruder auf einen Stuhl, setzte sich selbst vorsichtig hin und vergewisserte sich, daß der Stuhl sein Gewicht tragen konnte.
Vier Zentauren stellten sich an die vier Ecken des riesigen Tischtuches. Dann hoben sie das Tuch in Tischhöhe hoch und ließen es los. Das Tuch blieb schwebend in der Luft, seine feinbestickte Oberfläche war genauso hart und stabil wie die Tische im Wirtshaus Zur letzten Bleibe.
»Wie wunderbar! Wie haben sie das gemacht?« rief Tolpan und spähte unter das Tuch. »Da ist nichts!« berichtete er mit großen Augen. Die Zentauren lachten schallend, und selbst der Herr der Wälder lächelte. Dann tischten die Zentauren auf. Dampfendes geröstetes Fleisch erfüllte die Luft mit einem verführerischen rauchigen Duft. Wohlriechende Brote und riesige Holzschalen mit Früchten glitzerten im sanften Lampenlicht. Caramon, der sich nun auf seinem Stuhl sicher fühlte, rieb sich die Hände. Dann grinste er breit und hob seine Gabel. »Ahh!« Er seufzte erwartungsvoll, als ein Zentaur vor ihn eine Platte mit gebratenem Wildfleisch stellte. Caramon stieß die Gabel hinein und schnupperte den Dampf und Duft des Safts ein, die dem Fleisch entströmten. Plötzlich bemerkte er, daß ihn alle anstarrten. Er hielt inne und sah sich um.
»Waaa...?« fragte er blinzelnd. Dann blieben seine Augen auf dem Herrn der Wälder haften. Er errötete und legte schnell die Gabel weg. »Ich... ich... es tut mir leid. Dieser Hirsch muß jemand sein, den du gekannt hast—ich meine—einer deiner Untertanen.«
Der Herr der Wälder lächelte sanft. »Beruhige dich, Krieger«, sprach das Einhorn. »Der Hirsch erfüllt den Zweck seines Lebens, indem er den Jäger mit Nahrung versorgt. Wir betrauern nicht den Verlust derjenigen, deren Schicksal sich erfüllte.« Tanis schien es, daß die dunklen Augen des Herrn der Wälder zu Sturm wanderten, während er sprach, und in ihnen lag eine tiefe Traurigkeit, die das Herz des Halb-Elfen mit kalter Angst erfüllte. Doch dann sah er das herrliche Tier wieder lächeln. »Ich träume mal wieder«, dachte er.
»Wie sollen wir wissen, Herr der Wälder«, fragte Tanis zögernd, »ob das Leben eines Lebewesens sein Schicksal erfüllt hat? Ich habe sehr alte Menschen kennengelernt, die in Bitterkeit und Verzweiflung starben. Ich habe Kinder gesehen, die vor ihrer Zeit starben, aber die ein Vermächtnis der Liebe und der Freude zurückließen, so daß die Trauer über ihr Dahinscheiden durch das Wissen gemildert wurde, daß ihr kurzes Leben anderen sehr viel gegeben hat.« »Du hast deine eigene Frage besser beantwortet, Tanis HalbElf, als ich es hätte tun können«, sagte der Herr der Wälder feierlich. »Indem du sagtest, daß unser Leben nicht am Gewinn gemessen wird, sondern am Geben.«
Der Halb-Elf wollte etwas erwidern, aber der Herr der Wälder kam ihm zuvor. »Lege deine Sorgen jetzt beiseite. Genieße den Frieden meines Waldes, solange er anhält.«
Tanis sah den Herrn der Wälder durchdringend an, aber das wundervolle Tier hatte seine Aufmerksamkeit von ihm abgewandt und starrte nun in den Wald hinein, seine Augen waren sorgenvoll umwölkt. Der Halb-Elf fragte sich, was das wohl bedeuten könnte, und saß in dunklen Gedanken verloren da, bis er eine sanfte Hand spürte.
»Du solltest essen«, sagte Goldmond. »Deine Sorgen werden mit dem Mahl nicht verschwinden - und falls doch, um so besser.« Tanis lächelte sie an und begann mit großem Appetit zu essen. Er nahm den Rat des Herrn der Wälder an und verbannte seine Sorgen für eine Weile. Goldmond hatte recht: Sie würden ihm sowieso bleiben.
Die übrigen Gefährten taten dasselbe und musterten das Seltsame ihrer Umgebung mit dem selbstbewußten Auftreten erfahrener Reisende. Obwohl es nur Wasser zu trinken gab - zu Flints großer Enttäuschung -, wusch die kühle, klare Flüssigkeit das Entsetzen und den Zweifel aus ihren Herzen fort, so wie sie das Blut und den Schmutz von ihren Händen gereinigt hatte. Sie lachten, unterhielten sich, aßen und genossen ihr Zusammensein. Der Herr der Wälder beteiligte sich nicht an den Gesprächen, sondern beobachtete sie nur. Sturms blasses Gesicht hatte wieder Farbe gewonnen. Er aß mit Anmut und Würde. Neben ihm saß Tolpan. Er beantwortete die schier unerschöpflichen Fragen des Kenders über seine Heimat. Unauffällig holte er aus Tolpans Beutel ein Messer und eine Gabel hervor, die auf seltsame Weise ihren Weg dorthin gefunden hatten. Der Ritter saß so weit wie möglich von Caramon entfernt und tat sein Bestes, ihn zu ignorieren. Der riesige Krieger genoß sein Mahl offensichtlich. Er aß dreimal soviel, dreimal so schnell und dreimal so laut wie die anderen. Wenn er nicht gerade aß, beschrieb er Flint einen Kampf mit einem Troll und benutzte dabei einen Knochen als Schwert, um seine Hiebe zu veranschaulichen. Flint aß herzhaft und sagte ihm, daß er der größte Lügner auf Krynn wäre. Raistlin, der neben seinem Bruder saß, aß sehr wenig. Er sagte nichts, sondern hörte nur aufmerksam den anderen zu und nahm alles in sich auf, um es zu speichern und irgendwann einmal darauf zurückgreifen zu können.
Goldmond aß mit vornehmer Anmut. Die Que-Shu-Prinzessin war es gewöhnt, in der Öffentlichkeit zu speisen und mühelos Konversation zu führen. Sie plauderte mit Tanis, ermunterte ihn, das Elfenland zu beschreiben und andere Orte, die er besucht hatte. Flußwind zeigte sich sehr verlegen und gehemmt. Zwar war er nicht ein so lärmender Esser wie Caramon, aber offensichtlich war er mehr daran gewöhnt, mit anderen Stammesangehörigen am Lagerfeuer und nicht in königlichen Hallen zu essen.
Schließlich schoben alle ihre Teller beiseite und machten es sich in den seltsamen Stühlen bequem. Tolpan sang eines seiner Wanderlieder zum Vergnügen der Zentauren. Dann erhob Raistlin plötzlich seine Stimme. Sein leises Flüstern fuhr durch das Gelächter und das laute Gespräch.
»Herr der Wälder«, zischte der Magier, »heute haben wir gegen abscheuliche Kreaturen gekämpft, die uns noch nie zuvor auf Krynn begegnet sind. Weißt du mehr über sie?«
Mit der entspannten und festlichen Stimmung war es sofort vorbei. Alle tauschten bittere Blicke aus.
»Diese Kreaturen gehen wie Menschen«, fügte Caramon hinzu, »aber sie sehen aus wie Reptilien. Statt Händen und Füßen haben sie Klauen und Flügel, und« - seine Stimme sank -»sie verwandeln sich in Stein, wenn sie sterben.«
Der Herr der Wälder betrachtete sie mit Traurigkeit und erhob sich. Er schien die Frage erwartet zu haben.