Выбрать главу

Tanis kannte sich ausreichend mit den Gebräuchen der Ebenen aus, um zu erkennen, daß sich Flußwind mit dieser Äußerung bereit erklärt hatte, alles für den Halb-Elf zu opfern - sogar sein Leben. Ein Freundschaftseid war ein heiliger Eid bei den Barbaren. »Du bist auch mein Freund, Flußwind«, sagte Tanis schlicht. »Du und Goldmond seid beide meine Freunde.« Flußwind richtete seine Augen auf Goldmond, die in ihrer Nähe stand, auf ihren Stab gestützt, mit geschlossenen Augen, das Gesicht vor Schmerz und Erschöpfung verzogen. Flußwinds Gesicht wurde vor Mitgefühl weich, als er sie ansah. Dann verhärtete es sich wieder und wurde stolz und ernst. »Xak Tsaroth ist nicht mehr weit entfernt«, sagte er kühl. »Und diese Spuren sind alt.« Er führte die Gefährten durch den Urwald. Kurz darauf veränderte sich plötzlich der Pfad vor ihnen. »Eine Straße!« rief Tolpan aus. »Der Stadtrand von Xak Tsaroth!« keuchte Raistlin. Flint sah sich voller Abscheu um. »Was für ein Schlamassel! Wenn das größte Geschenk an die Menschheit hier sein soll, dann ist es aber gut versteckt!« Tanis stimmte ihm zu. Niemals zuvor hatte er einen trostloseren Ort gesehen. Als sie weitergingen, führte die nun breite Straße sie zu einem offenen gepflasterten Hof. Zum Osten hin erstreckten sich vier hohe freistehende Säulen, die nichts trugen, denn die Ruinen des Gebäudes lagen vor ihnen. Eine riesige, unversehrte, kreisförmig angelegte Steinmauer erhob sich vor ihnen. Caramon ging zu ihr und verkündete, daß es ein Brunnen sei.

»Scheint tief zu sein«, sagte er. Er beugte sich vor und spähte hinunter. »Und stinkt.«

Nördlich vom Brunnen stand das anscheinend einzige Gebäude, das der Zerstörung durch die Umwälzung standgehalten hatte. Es war aus weißem Stein erbaut und wurde von hohen schlanken Säulen getragen. Große goldene Doppeltüren glänzten im Mondschein. »Das war ein Tempel für die alten Götter«, sagte Raistlin mehr zu sich als zu den anderen. Aber Goldmond, die neben ihm stand, hörte sein Wispern.

»Ein Tempel?« wiederholte sie und starrte auf das Gebäude. »Wie schön.« Sie ging auf den Tempel zu, seltsam fasziniert. Tanis und die anderen durchsuchten den Platz und fanden kein anderes unversehrtes Gebäude. Geriffelte Säulen lagen herum, ihre zerbrochenen Teile zeigten noch ihre frühere Schönheit. Statuen waren teilweise auf groteske Weise enthauptet. Alles war alt, so alt, daß sich sogar der Zwerg jung fühlte. Flint setzte sich auf eine Säule. »Nun, hier sind wir also.« Er blinzelte zu Raistlin und gähnte. »Was nun, Magier?« Raistlin wollte gerade etwas sagen, als Tolpan schrie: »Drakonier!« Alle wirbelten mit gezogenen Waffen herum. Ein Drakonier starrte vom Brunnenrand auf sie herab.

»Haltet ihn auf!« rief Tanis. »Er wird die anderen warnen!« Aber bevor ihn jemand erreichen konnte, hatte der Drakonier seine Flügel ausgebreitet und flog in den Brunnen. Raistlin rannte zum Brunnen und spähte über den Rand. Er hob seine Hand, um einen Zauber zu werfen, zögerte dann und ließ die Hand sinken. »Ich kann nicht«, erklärte er. »Ich kann nicht denken. Ich kann mich nicht konzentrieren. Ich muß schlafen!« »Wir sind alle erschöpft«, sagte Tanis müde. »Wenn dort unten etwas ist, wird er es gewarnt haben. Wir können jetzt nichts unternehmen. Wir müssen uns ausruhen!«

»Er muß etwas warnen«, flüsterte Raistlin. Er zog seinen Umhang enger um sich und starrte mit aufgerissenen Augen umher. »Könnt ihr es nicht fühlen? Einer von euch? Halb-Elf? Etwas Bösartiges ist dabei, wach zu werden.«

Alle schwiegen.

Dann kletterte Tolpan auf die Mauer und sah hinunter. »Schaut! Der Drakonier schwebt da unten wie ein Blatt. Seine Flügel schlagen nicht...«

»Sei still!« schnappte Tanis.

Tolpan blickte den Halb-Elf erstaunt an - Tanis' Stimme klang angespannt und unnatürlich. Der Halb-Elf starrte auf den Brunnen und spielte nervös mit seinen Fingern. Alles war ruhig. Zu ruhig. Die Gewitterwolken ballten sich im Norden zusammen, aber es wehte kein Wind. Nicht ein Zweig knisterte, nicht ein Blatt rührte sich.

Dann wich Raistlin langsam vom Brunnen zurück und erhob seine Hände, als ob er eine furchtbare Gefahr abwehren wollte. »Ich spüre es auch.« Tanis schluckte. »Was ist es?«

»Ja, was ist es?« Tolpan blickte weiterhin eifrig in den Brunnen. Er sah genauso tief und dunkel aus wie die Stundenglasaugen des Magiers. »Holt ihn dort weg!« schrie Raistlin.

Tanis, von der Furcht des Magiers und seinem wachsenden Empfinden, daß etwas Furchtbares geschehen würde, angesteckt, rannte zu Tolpan. Schon als er zu laufen begann, spürte er den Boden unter seinen Füßen erbeben. Der Kender stieß einen erschreckten Schrei aus, als die uralte Steinmauer des Brunnens einstürzte. Tolpan fühlte sich in die grauenhafte Schwärze gleiten. Er scharrte hektisch mit Händen und Füßen, um sich an den bröckelnden Steinen festzuhalten. Tanis sprang verzweifelt vor, aber er war zu weit entfernt.

Fluß wind hatte sich auch in Bewegung gesetzt, als er Raistlins Schrei gehört hatte, und den Brunnen schneller erreicht. Er konnte Tolpan noch am Kragen packen und ihn von der Mauer wegziehen, bevor die Steine in die Schwärze stürzten. Wieder erzitterte der Boden. Dann fuhr ein eiskalter Windstoß aus dem Brunnen und wirbelte Staub und Laub vom Hof in die Luft.

»Lauft!« versuchte Tanis zu schreien, aber er würgte von dem widerlichen Gestank, der aus dem Brunnen fuhr.

Die noch stehenden Säulen begannen zu wanken. Die Gefährten starrten ängstlich auf den Brunnen. Dann riß Fluß wind seinen Blick fort. »Goldmond...«, rief er. Er ließ Tolpan fallen. »Goldmond!« Er hielt inne, als ein hohes Kreischen aus den Tiefen des Brunnens ertönte. Der Ton war so laut und schrill, daß er das Gehirn zu durchbohren schien. Flußwind suchte hektisch nach Goldmond und rief immer wieder ihren Namen. Tanis stand wie gelähmt. Unfähig sich zu bewegen, sah er Sturm, der sich mit dem Schwert in der Hand langsam vom Brunnen zurückzog. Er sah Raistlin – das gespenstische Gesicht des Magiers glänzte metallgelb, seine goldenen Augen rot im Schein des roten Mondes -, der etwas schrie, das Tanis nicht verstand. Er sah Tolpan mit weit aufgerissenen Augen zum Brunnen starren. Sturm rannte über den Hof, klemmte sich den Kender unter einen Arm und eilte auf die Bäume zu. Caramon lief zu seinem erschöpften Bruder, fing ihn auf und suchte irgendwo Schutz. Tanis wußte, daß etwas monströses Böses aus dem Brunnen erscheinen würde, aber er konnte sich nicht bewegen. Die Worte »Renne, Dummkopf, renne!« schrien in seinem Gehirn.

Auch Flußwind blieb neben dem Brunnen stehen. Er bekämpfte seine wachsende Furcht. Er konnte Goldmond nicht finden! Durch den Kender abgelenkt, hatte er nicht bemerkt, daß Goldmond auf den unzerstörten Tempel zugegangen war. Er sah sich wild um und kämpfte auf dem bebenden Boden um sein Gleichgewicht. Das hohe kreischende Geräusch, das Beben und Zittern des Bodens brachten verborgene alptraumhafte Erinnerungen zurück. »Tod auf schwarzen Flügeln.« Er schwitzte und zitterte, zwang sich dann, seine Gedanken auf Goldmond zu konzentrieren. Sie brauchte ihn, er wußte es -und nur er wußte auch, daß ihre Maske der Stärke nur ihre Furcht, ihre Zweifel und ihre Unsicherheit überdeckte. Sie würde sich schrecklich ängstigen, und er mußte sie finden.

Als die Steine des Brunnens zu rutschen begannen, wich Flußwind zurück und erblickte Tanis. Der Halb-Elf schrie und zeigte nach hinten zum Tempel. Flußwind konnte ihn aber wegen des kreischenden Lärms nicht verstehen. Dann begriff er! Goldmond! Flußwind wollte ihr nachlaufen, aber er verlor das Gleichgewicht und fiel auf die Knie.

Dann wurde plötzlich der Schrecken aus dem Brunnen sichtbar - der Schrecken seiner fiebrigen Alpträume. Flußwind schloß die Augen, um nichts mehr sehen zu müssen.

Es war ein Drache.

Tanis, dem alles Blut aus dem Körper zu weichen schien, sah auf den Drachen, der aus dem Brunnen brach, und dachte: »Wie schön... wie schön...«