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Zur Nachtzeit, ganz heimlich wie ein Dieb, verließ Terentij mit seinem Wägelchen den heimischen Herd. Schweigend lenkte er sein Pferd und schaute mit seinen großen schwarzen Kalbsaugen immer wieder zurück. Das Pferd trottete im Schritt daher, der Wagen ward tüchtig gerüttelt, und Ilja, der sich ins Heu eingewühlt hatte, war bald in kindlich festen Schlaf gesunken ...

Mitten in der Nacht ward der Knabe durch einen beängstigenden, sonderbaren Ton geweckt, der wie das Heulen eines Wolfes klang. Die Nacht war hell, der Wagen hielt am Saume eines Waldes; das Pferd rupfte schnaubend das taufeuchte Gras in der Nähe des Wagens ab. Eine mächtige Kiefer stand einsam weit im Felde, wie wenn sie aus dem Walde vertrieben worden wäre. Die scharfblickenden Augen des Knaben spähten unruhig nach dem Onkel aus; in der Stille der Nacht vernahm man deutlich das dumpfe, vereinzelte Aufschlagen der Pferdehufe gegen den Boden, und das Schnauben des Gaules, das wie ein schweres Seufzen klang, und jenen unerklärlichen, bebenden Ton, der Ilja so in Schrecken setzte.

»Onkelchen!« rief er leise.

»Was gibt's?« versetzte Terentij hastig, während jenes Heulen plötzlich verstummte.

»Wo bist du?«

»Hier bin ich ... Schlaf nur ruhig! ...«

Ilja sah, daß der Onkel, ganz schwarz und einem aus der Erde emporgerissenen Baumstumpf gleichend, auf einem Hügel am Waldrande saß.

»Ich fürchte mich«, sagte der Knabe.

»Wovor kann man sich hier fürchten? ... Wir sind doch ganz allein ...«

»Es heult jemand so ...«

»Hast wohl nur geträumt ...«

»Bei Gott – er heult!«

»So ... vielleicht war's ein Wolf ... Doch er ist weit ... Schlaf nur! ...«

Aber dem kleinen Ilja war der Schlaf vergangen. Von der nächtlichen Stille ward ihm so bang ums Herz, und in den Ohren klang ihm in einem fort jener seltsam klagende Ton. Er betrachtete mit Aufmerksamkeit die Gegend und sah, daß der Onkel dahin schaute, wo auf dem Berge, weit, weit im Walde, die weiße Kirche mit ihren fünf Kuppeln sich erhob, über der hell der große, runde Mond erglänzte. Ilja erkannte, daß es die Kirche des Dorfes Romodanowsk war; zwei Werst von ihr entfernt lag oberhalb einer Schlucht mitten im Walde ihr Heimatort Kiteshnaja.

»Wir sind noch nicht weit fort«, sagte Ilja nachdenklich.

»Was?« fragte der Onkel.

»Wir sollten doch weiter fahren, mein' ich ... Es wird noch jemand von dort herkommen ...«

Ilja nickte mit feindseligem Ausdruck nach der Richtung des Dorfes hin.

»Wir werden schon weiterfahren ... wart' nur! ...« versetzte der Onkel.

Wiederum ward es still. Ilja stützte sich mit den Ellbogen auf den Vorderteil des Wagens und begann gleichfalls dahin zu schauen, wohin der Onkel schaute. Das Dorf konnte man in dem dichten, schwarzen Waldesdunkel zwar nicht sehen, doch es schien Ilja, daß er es wirklich sah, mit allen Häusern und Menschen und der alten Weide mitten auf der Straße, dicht neben dem Brunnen. Auf dem Boden, am Stamme der Weide, liegt sein Vater, mit Stricken gebunden, im zerrissenen Hemd; seine Arme sind auf dem Rücken gefesselt, die entblößte Brust tritt hervor, und der Kopf scheint an dem Baume festgewachsen. Unbeweglich, wie ein Toter, liegt er da und schaut mit schrecklichem Ausdruck in den Augen auf die Bauern. Es sind ihrer so viele, und sie alle schauen so böse drein, und sie schreien und schelten. Diese Erinnerung stimmte den Kleinen traurig, und es kitzelte ihn etwas in der Kehle. Es war ihm, als ob er im nächsten Augenblick in Tränen ausbrechen müßte, aber er wollte den Onkel nicht beunruhigen, und so hielt er an sich und krümmte, um sich zu erwärmen, seinen kleinen Körper noch mehr zusammen ...

Plötzlich vernahm er wieder jenen seltsamen, heulenden Ton. Wie ein schwerer, schluchzender Seufzer klang er zuerst, und dann wie ein unsagbar trauriges Wehklagen:

»O–o–u–o–o! ...«

Der Knabe fuhr ängstlich zusammen und horchte. Der Ton aber klang noch immer zitternd durch die Luft und nahm an Stärke zu.

»Onkelchen! Bist du es, der so heult?« schrie Ilja.

Terentij antwortete nicht und regte sich nicht. Da sprang der Knabe vom Wagen, lief zum Onkel hin, schmiegte sich fest an ihn und begann gleichfalls zu schluchzen. Mitten durch sein Schluchzen vernahm er die Stimme des Onkels:

»Ausgestoßen ... haben sie uns ... o Gott! Wohin sollen wir gehen? ... Wohin?«

Und der Knabe sprach mit tränenerstickter Stimme:

»Wart' nur ... wenn ich groß bin ... will ich's ihnen vergelten! ...«

Als er sich ausgeweint hatte, schlief er ein. Der Onkel nahm ihn auf seine Arme und trug ihn in den Wagen, er selbst aber ging wieder auf die Seite und begann von neuem zu heulen, so langgezogen, kläglich ... wie ein kleiner Hund.

II

Ganz deutlich erinnerte sich später Ilja seiner Ankunft in der Stadt. Er erwachte früh am Morgen und sah vor sich einen breiten, trübfließenden Strom und jenseits desselben, auf einem hohen Berge, einen Häuserhaufen mit roten und grünen Dächern und dichte Gärten. Die Häuser stiegen dichtgedrängt und malerisch an dem Bergrücken immer höher empor, und oben auf dem Kamme des Berges zogen sie sich in gerader Linie hin und schauten von dort stolz über den Fluß hinweg. Die goldenen Kreuze und Kuppeln der Kirchen ragten über die Dächer hoch zum Himmel auf. Soeben war die Sonne aufgegangen; ihre schrägen Strahlen spiegelten sich in den Fenstern der Häuser, und die ganze Stadt flammte in grellen Farben, glänzte in lauter Gold.

»Ach, wie hübsch das ist!« rief der Knabe, während er mit weitgeöffneten Augen das wunderbare Bild betrachtete, und war ganz in schweigende Bewunderung versunken. Dann tauchte in seiner Seele der beunruhigende Gedanke auf, wo sie denn in diesem Häuserhaufen wohnen würden – er, der kleine Junge in den Höschen aus buntem Hanfleinen, und sein unbeholfener, buckliger Onkel? Wird man sie überhaupt da hineinlassen, in die saubere, reiche, große, goldschimmernde Stadt? Er glaubte, ihr Wägelchen stehe nur darum hier am Ufer des Flusses, weil man so arme Menschen nicht in die Stadt hineinlasse. Der Onkel, dachte er, war wohl nur fortgegangen, um Einlaß zu erbitten.

Mit bekümmertem Herzen schaute Ilja nach dem Onkel aus. Rings um ihren Karren stand noch viel anderes Fuhrwerk: hier sah man hölzerne Fässer mit Milch, dort große Körbe mit Geflügel, Gurken, Zwiebeln, Rindenkörbe mit Beeren, Säcke mit Kartoffeln. Auf den Wagen und um sie herum saßen und standen Männer und Frauen von ganz besonderer Art. Sie sprachen laut, mit harter Betonung, und ihre Kleider waren nicht aus blauem Hanfgewebe, sondern aus buntem Zitz und grellrotem Baumwollstoff gefertigt. Fast alle trugen Stiefel an den Füßen, und obschon ein Mann mit einem Säbel an der Seite neben ihnen auf und ab ging, so hatten sie doch nicht nur keine Angst vor ihm, sondern grüßten ihn nicht einmal. Das gefiel Ilja ganz besonders. Er saß auf dem Wagen, betrachtete das in hellen Sonnenschein getauchte, lebensvolle Bild und träumte von der Zeit, da auch er Stiefel und ein Hemd aus rotem Baumwollstoff tragen würde.

In der Ferne, mitten unter den Bauern, tauchte jetzt Onkel Terentij auf. Er kam mit großen, festen Schritten durch den tiefen Sand daher und trug den Kopf hoch erhoben; sein Gesicht hatte einen heiteren Ausdruck, und schon von weitem lächelte er Ilja zu, wobei er ihm die Hand entgegenstreckte und ihm irgend etwas zeigte:

»Der Herr ist uns gnädig, Iljucha! Hab' den Onkel gleich gefunden ... Da, nimm, kannst vorläufig was verbeißen! ...«

Und er reichte Ilja einen Kringel hin.

Der Knabe nahm ihn fast ehrfürchtig entgegen, steckte ihn hinter sein Hemd und fragte besorgt: