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Sie fordert ihn nicht.

Sie verlässt ihn für Minuten, um der Sonne nachzusehen, die hinter der alten Heizhausruine verschwindet. So spät ist es schon — wie war das heute mit dem Abendbrot? Sie erinnert sich nicht, sieht aber plötzlich die zurechtgemachten Schnitten, das halbe Ei mit Schnittlauch, den Apfelsaft auf dem Nachtschränkchen. Wahrscheinlich hat Carola ihr das gebracht. Wahrscheinlich wähnte Carola sie schlafend? Jetzt greift sie nach dem Ei und will es in den Mund schieben. Matthes geht dazwischen, hält ihre Hand fest, als die erste Hälfte der Hälfte in der Höhle verschwunden ist. Na gut, beißt sie eben ab. Steckt sie eben nicht die ganze Hälfte hinein, es wäre ihr ja vermutlich auch nicht gut bekommen, so anfällig, wie sie derzeit für’s Verschlucken ist. Langsames Kauen, dann fährt die Hand zurück und legt die zweite Hälfte der Hälfte wieder auf den Teller. Nein, doch nichts essen. Matthes beugt sich über sie, nimmt sie in den Arm, legt seine Wange an ihre. Verabschiedet er sich? Tatsächlich, aber auch das hat sie nicht gehört.

Sie ist’s zufrieden. Schläft ein.

Beine anheben! Beide!

Helene liegt auf der Matte. Das linke Bein kommt in den

90

— Grad-Winkel, das rechte schafft vielleicht dreißig. Nicht schlecht, denkt sie. Der rechte Arm aber, weiß sie, schafft nichts, nicht einen Finger kann sie auch nur ein kleines bisschen steuern. Da kommt auch schon das Kommando.

Arme in die Vorhalte, nach oben!

Der linke geht hoch.

Und? Was ist mit dem rechten?

Die Physiotherapeutin weiß das doch, kann sie sie nicht in Ruhe lassen damit?

Jetzt schiebt sie eine Faust unter Helenes Schulter und reizt das Schulterblatt mit den Fingerknöcheln, kaum schmerzhaft, aber deutlich spürbar. Sie führt den rechten Arm nach oben, rotiert ihn leicht nach außen. Als sie ihn gestreckt in die Höhe hält, fordert sie Helene auf, ihn in kurzen Intervallen gegen ihre ihn haltende Hand zu stemmen. Das klappt nicht, also übt sie kleinste Beuge- und Streckbewegungen des Ellbogens mit ihr. Schließlich soll sie die Hand oben behalten, so lange wie möglich! wenn die Therapeutin losgelassen hat. Nur Sekunden, dann fällt der Arm. Immerhin. Sie beginnt, Helenes Schultergürtel zu stabilisieren, indem sie die Schulter nach vorn hält. Dieses Spielchen wiederholt sich fünfmal. Dann ist Umdrehen dran. Sie liegt auf dem Rücken. Die Therapeutin steht am Kopfende und zieht am rechten Arm, dreht ihn leicht und greift unter die rechte Schulter. Helene spürt den Impuls, das Becken zu bewegen und so das Umdrehen einzuleiten. Die ganze rechte Seite wird gedehnt, lang gezogen, gestreckt, das ist ein wohliges Gefühl, sie merkt, wie es gefehlt hat bislang. Als sie endlich auf dem Bauch liegt, will die Therapeutin auch noch, dass sie sich auf die Knie und Hände stützt. Irgendwie fehlt es am Gleichgewicht. Zwar kann sie sich vorstellen, sich mit deutlicher Bevorzugung der linken, kräftigen Seite so zu halten, aber es gelingt nicht. Die Therapeutin greift ein, doch es endet kläglich.

Tränen, nur kurz.

Der Grund für ihr Treffen mit Viola?

Sie recherchierte für einen Artikel, irgendeine Frauenzeitschrift wollte den von ihr, über Ehepaare, die sich hatten scheiden lassen und offen über ihre Beziehung zu reden bereit waren. Eine reine Geldbeschaffungsarbeit. Mit V. hatte Viola, wahrheitsgemäß, den Brief unterschrieben, den sie ihr auf die Anzeige in diversen Zeitungen geschickt hatte. Viktor, Volker, Volkmar. Helene hatte den Brief von Matthes einscannen und auf ihren Laptop übertragen lassen. Fieberhaft sucht sie jetzt die betreffende Datei.»Ich habe mich

1994

von meiner Frau scheiden lassen. Man hat uns gezwungen, das zu tun. Ob meine Exfrau heute noch über uns reden möchte, weiß ich allerdings nicht. V. «Da steht es. Die Zwangsscheidung war es, die Helene neugierig gemacht hatte. Sie hatte sich mit V. im Park von Sanssouci verabredet, am Fuße der berühmten Stufen, und war dann zum ersten Mal mit Viola zusammengetroffen, die ihre Irritation natürlich erwartet hatte. Dass auch sie nach dem Vorstellungsakt einige Schritte weitergegangen war, begründete sie später mit der Konfusion, die Helenes Erscheinung in ihr angerichtet hätte. Irgendwie waren beider Konfusionen noch nicht fertig miteinander gewesen und hatten sie die Köpfe nach hinten drehen lassen, im gleichen Augenblick. Helene hatte nun lachen müssen, das Schuldgefühl im Nacken, und auch Viola hatte nach einigen verlegenen Zuckungen ein breites Grinsen gezeigt. Helene hatte sich nicht anders zu helfen gewusst, als sich

vieltausendmal

zu entschuldigen, woraufhin Viola etwas gnädiger ausgesehen hatte, bis sie beide beschlossen, sich ein Café zu suchen. Auf dem Weg dorthin war Helene bemüht gewesen, die Konzeption des geplanten Artikels zu erläutern und ihr Interesse an Violas Version einer Zwangsscheidung zu bestärken. Viola aber schwieg. Umständlich pellte sie sich aus dem Parka, als sie ein kleines, ruhiges Lokal gefunden hatten. Helene meinte inzwischen, Unsicherheit hinter ihrer herablassenden Art auszumachen. Also griff sie zu, hielt den Parka am Kragen, Viola kam nun leichter heraus. Offensichtlich saß das Ding sehr eng.

Viola bestellte sich zwei kleine Kräuterschnäpse, dazu ein großes Bier, während Helene viel Zeit in einem Milchkaffee verrührte. Zeit, die sie ihrer Jüngsten abgenommen hatte — sie hatte Lottchen für jenen Nachmittag bei einer Freundin gelassen. Zu fragen erschien ihr sinnlos, also wartete sie auf die vermutlich auch von Viola erhoffte Wirkung des Zinnaer Klosterbruders. Der Kerl in Viola faszinierte sie, sie empfand Scham darüber, wie sie vorhin Schuld empfunden hatte, Scham und Schuld, geschwisterliche Verfühlungen, deren Grund nicht in ihr auszumachen war, wie sie fand, und sie nötigte sich, ein irgendwie heiteres Gesicht aufzusetzen, das aber nun doch errötete, fleckenweise, streckenweise, sie spürte genau, wo das Rot hinaufkroch vom Hals her, als hätte sie Wein getrunken, ihre Hand zog den Rollkragen des Pullovers höher, über das Kinn, sie vergrub sich darin und hoffte, Viola möge zum Fenster hinausschauen.

Viola schaute zum Fenster hinaus.

Wahrscheinlich litt sie an Rosazea. Um den Mund herum zeigten sich stecknadelkopfgroße Eiterpusteln, die auf der entzündlich aufgetriebenen Haut residierten, als wüssten sie, dass ihnen nur schwer beizukommen war. Wenn diese Situation hier Stress war, würde sich die Hautreaktion vermutlich verstärken. Zu Scham und Schuld gesellte sich Mitleid. Innerhalb dieser Gefühlstriade war Helene, als müsste sie unmerklich verschwinden, um nicht in deren Kämpfe verwickelt zu werden. Unangenehme Konstellation. Viola trug das Kinn hoch, die Augen blickten so in der Tat von oben herab auf das platte Volk ringsum, und dass ihnen nichts entging, schien Helene eine mühselig erlernte Fähigkeit zu sein. Die Violaaugen huschten. Flitscherten. Flitzten. Schwirrten. Hasteten. Holten aus. Schlugen zu. Solch einen Schlag bekam auch Helene zu spüren, als sich ihr Blick wider Willen an Violas Brüsten aufhielt, die nicht groß, aber wirklich da waren, sogar einen BH konnte man an der rückseitigen Einkerbung erkennen. Wenn sie solch intuitives Gestarre immer aushalten musste, verwunderten weder Rosazea noch Kinnhaltung. Sie hätte sich ohrfeigen können.

Immer weiter rührte sie Zeit in den Kaffee.

Viola begann nach fünfundzwanzig Minuten — Helene hatte die Uhr im Blick, die über der Kuchenvitrine tickte — von ihren Kindern, die sie seit fünf Jahren nicht mehr gesehen habe. Die beiden Jungen wohnten gar nicht so weit entfernt von ihr, in einem Dörfchen im Teltow-Fläming-Kreis. Manchmal sei Viola hingefahren und habe eine Stunde oder auch zwei, durchs Dorf spazierend, darauf gewartet, ihnen zu begegnen. Hilflose Versuche. Ihre Frau habe nicht mehr gewollt. Gekonnt? war Helene versucht zu entgegnen, behielt es aber glücklicherweise für sich, sie kannte sie ja gar nicht. Früher sei sie ein Viktor gewesen, der mit seiner Rolle als Mann zunehmend weniger habe umgehen können. Gleichzeitig habe er den Bart immer dichter, die Frisur immer kürzer getragen. Bis er eines Tages ein weites, türkisfarbenes Empirekleid, das Lieblingskleid seiner Frau, angezogen, sich den Bart abgenommen und geschminkt, das Kopfhaar kahlrasiert und mit einem um die Glatze geschlungenen Seidentuch auf Frau und Kinder gewartet hätte, die vom Einkauf zurückkehrten. Augenblicklich hatte Helene sich Matthes in ihrem samtenen, bordeauxroten Umstandskleid vorgestellt. Viola weinte? Jedenfalls schwammen die Augen, zum Glück schauten sie in die Ferne der Blumendekoration auf der halbhohen Mauer um ihre Sitznische herum. Helene hatte das Bild vom Pannesamtmatthes weggewischt, es war aber hartnäckig gewesen und noch vier- oder fünfmal zwischen zwei Sätzen Violas aus der Versenkung gekommen, bereit, Helene zum Lachen zu reizen, was sie unbedingt hatte vermeiden wollen …