Was sie an jenem Nachmittag erfuhr, kam aus der Weltenfremde. Wie Schnee im Sommer war es niedergegangen und nicht getaut, was den Überraschungswert unzweifelhaft erhöhte.
Violas Geschichte hatte sich ganz in der Nähe abgespielt.
Als Kind hatte Helene einmal ihre Mutter hinter vorgehaltener Hand zu einer Kollegin sagen hören, der Vater ihrer Schülerin Helga Rant sei früher auch ihre Mutter gewesen. Lange hatte sie über diesen Satz gerätselt. Dass sie ihn nicht einfach hinterfragen konnte, hatte in der Luft gelegen, in die ihre Mutter den Satz hineingesprochen hatte. Sie hatte ihn nie vergessen, und als sie vier Jahre später Helga Rant, nun vierzehn und ein Jugendweihling, an der Hand ihres Vaters zum Kulturhaus hatte schreiten sehen, war ihr auf einmal aufgegangen, was er bedeutete.
Ach, Viola.
Der erste Nachmittag mit ihr war nichts gewesen, was Helene hätte verbraten wollen in einer noch so gehobenen Frauenzeitschrift. Das Gehobene war zu relativ.
Die Ärztemannschaft hat sich entschieden, Heidemühlen nun zuzulassen. Für übermorgen hat man sie dort angemeldet. Die Psychologin wird auf die Schnelle um eine neuerliche Leistungsdiagnostik gebeten, aber Helene lehnt, ebenso auf die Schnelle, ab. Die Einschätzung der Logopädin fällt außergewöhnlich flach aus, Helene hat einfach nicht mehr mitgemacht. Die Frau wollte von ihr nur Dinge, die sie konnte. Was sie nicht konnte, kam nicht
zur Sprache
Im Streit sind sie auseinandergegangen. Sie erwies sich als
nicht kooperative Patientin
und ist es zufrieden.
Sehr kooperativ
steht hingegen im Bericht der Physiotherapeutin. Zwar kann sie noch nicht, wie von der Therapeutin geweissagt, stehen, ist aber auf dem besten Wege dorthin. Sie glaubt es beinahe selber …
Am Morgen ist sie wieder in dem klaren Bewusstsein aufgewacht, kräftig und beweglich wie früher zu sein. Es braucht immer einige Zeit, bis sie vom hohen Ross abgestiegen ist und der Realitätssinn zurückkehrt. Trotzdem, schön ist es, so aufzuwachen, und dass es nicht stimmt, was der schlaftrunkene Zustand ihr vorgaukelt, nötigt ihr unterdessen nicht viel mehr als ein Lächeln ab.
Heute ist Dienstag. Zehnter September. Die Schule hat schon vor drei Wochen begonnen, wie Lissy ihr erzählt hat, als sie das letzte Mal da war. Komisch, dass alles auch ohne sie weitergeht. Bücher und Hefte für die Kinder zu beschaffen, war immer ihre Aufgabe gewesen. Sie kann sich nicht vorstellen, dass Matthes sie zu seiner gemacht hat. Viel eher wird er die Kinder selbst in die Spur geschickt haben. Matthes ist anders als sie. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Helene hingegen muss irgendwann der Kontrollblick gewachsen sein. Schon allein damit die Kinder nicht die Hälfte vergessen, ist es ihr lieber, deren Zeugs selbst zu kaufen. Sie liebt sich nicht dafür, aber sie liebt auch Matthes nicht etwa, weil er es anders handhabt als sie.
Warum sollte sie ihn lieben?
Sie weiß es einfach nicht mehr.
Das tut jetzt aber auch nichts zur Sache, denkt sie.
Das tut jetzt aber auch weh, denkt sie.
Etwas blitzt in ihrem Kopf. Wenn da ein hübscher Titan-Clip drin ist, darf es doch ruhig blitzen, oder? Ja, es blitzt. Und Schatten? Schatten dazwischen. Langsam geben die sich die Ehre, reichen einander Bilder zu, die erst langsam, dann in dichter werdender Folge Kontur gewinnen. Ohne die Augen zu schließen? Sie staunt, dass es aufflammt. Dass es immer wieder starre Momentaufnahmen sind, die sie sieht. Keine bewegten Sequenzen. Und immer wieder — Viola! Viola im Unterhemd, beschämt die Scham abwehrend; Viola im Wald, auf Stubben hockend; Viola beim Vögelbeobachten, beim Ausschreiten, Viola singend, Viola pfeifend, Viola beim Fleischer, vorm Computer, Viola beim Lesen, Buch, Zeitung, beim Weintrinken (Schnaps nicht, auch kein Zinnaer Klosterbruder), beim Ausbessern einer Hose, einer Bluse, Viola im Dunkel, schlafend. Wenn sie Viola schlafend gesehen hat, müssen sie zusammen in einem Raum gewesen sein zur Nacht. Schleppend das Erinnern, aber es schleppt, bedächtig, herbei, was war.
Gleichzeitig zieht es im Bauch.
Sie hat Viola geliebt.
Helene im Rollstuhl, auf dem Weg zum Krankentransport, der sie nach Heidemühlen bringen soll. Den gestrigen Tag hat sie es sich so gut gehen lassen, wie es eben ging mit der Violafrage im Kopf. Sie wüsste gern, wo die Violafrage sitzt. Ob sie im wahren Wortsinne abgeschnitten wurde und ihren Auftritt jetzt hintenherum hatte. Über andere Bahnen? Die Violafrage ist unvollständig. Viola ist nicht hier, hat sie nicht ein einziges Mal besucht. Helene zermartert sich den angebohrten, aufgesägten Schädel. Sie drückt die Hand fest auf die fühlbaren Löcher, als hätte sie Angst, dass die Violafragenfragmente sich auf und davon machten, wenn sie nicht aufpasste. Womöglich uneinholbar.
Vorgestern noch hätte sie bei dem Gedanken, eine Frau geliebt zu haben, bar jeder
political correctness,
vermutlich gelacht. Wie schnell alles wegwankt, noch mal und noch mal.
Da wankt es aber auch schon wieder auf sie zu: Als sie die Aufnahmeambulanz durchkreuzen mit dem Rollstuhl, ist sie schlagartig erinnert an die Situation der Einlieferung, alles kommt wieder! kommt wirklich alles wieder? sie wird flatterig, die linke Hand zittert. Wie sie so auf dem Oberschenkel liegt, sieht sie aus wie ein gerupftes Huhn in Todesangst. Auf einer fahrbaren Trage war sie vor Wochen hier hereingeschoben worden, sie verfolgt sich jetzt mit geschlossenen Augen: Zunächst hatte sie, eine unendlich lange Zeit, wie ihr heute scheint, auf dem Gang gestanden, den tödlichen Kopfschmerz als Helm umgeschnallt. Später war sie in einen der Behandlungsräume gefahren worden. Als endlich ein Arzt kam, hatte er ernst ausgesehen und gleichzeitig undurchdringlich, es war ihm nichts zu entlocken gewesen über ihren Zustand. Nach ihrem Namen hatte er gefragt, nach dem Datum und dem Wochentag, nach ihrem Geburtstag. Hatte ihren Reflexstatus überprüft mit Händen und Hämmerchen, war wortlos aus dem Raum gegangen. Sie war weggetreten. Oder eingeschlafen? Jedenfalls kam sie zu sich, als sie mit fest eingespanntem Kopf in einer Röhre gelegen hatte. Wieder draußen, hatte eine Schwester begonnen, an ihr herumzuhantieren. Sie auszuziehen. Sie hatte gefragt, was sie da täte, und die Schwester hatte mit betont ruhigem Augenaufschlag gemeint, dass
ein bisschen Blut ausgetreten
sei, das Wort
Subarachnoidalblutung
war nicht gefallen, als müsste man es den Patienten immer schön einfach machen. Als hätten sie durch die Bank keine Ahnung zu haben von diesen Dingen. Sie würde ihr gleich etwas geben, wovon sie erst einmal
schön einschlafen
würde, und wenn sie wieder aufwachte, sei das Schlimmste garantiert vorbei. Gelächelt hatte sie, aber es war Helene gequält vorgekommen. Das war der letzte erinnerbare Eindruck, dann war da nichts mehr.