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Sie ging zu seinem Bett und setzte sich auf die Bettkante. Im Zimmer war es warm, aber ihr war, trotz des dicken Flanellnachthemds, kalt. Duddits ließ langsam die Arme sinken und beobachtete sie misstrauisch.

»Du darfst aufbleiben, wenn du willst«, sagte sie. »Aber wieso? Hast du geträumt, Duddits? Ein böser Traum?«

Vielleicht hatte er geträumt, aber bestimmt keinen bösen Traum, nicht bei diesem lebhaften Gesichtsausdruck, und jetzt erkannte sie es auch: So hatte er damals in den Achtzigern oft geschaut, in den guten Jahren, ehe Henry, Pete, Biber und Jonesy alle ihrer Wege gegangen waren, immer seltener anriefen und ihn noch seltener besuchten, während sie ihrem Erwachsenenleben entgegenstrebten und den vergaßen, der Zurückbleiben musste.

So schaute er, wenn sein siebter Sinn ihm sagte, dass seine Freunde zum Spielen vorbeikommen würden. Manchmal gingen sie dann alle zusammen in den Strawford Park oder die Barrens (es war ihnen nicht erlaubt, dorthin zu gehen, aber sie taten es trotzdem, Alfie und sie wussten davon, und einer ihrer Ausflüge dorthin brachte sie alle auf die Titelseite der Zeitung). Hin und wieder fuhr Alfie oder jemand von ihren Eltern mit ihnen zum Minigolf oder zu Fun Town in Newport, und an solchen Tagen packte sie Duddits immer Brote und Kekse und eine Thermoskanne mit heißer Milch in seine Scooby-Doo-Lunchbox.

Er glaubt, dass seine Freunde kommen. Er muss wohl denken, Henry und Jonesy würden kommen, denn er sagt ja, dass Pete und Biber...

Plötzlich hatte sie ein entsetzliches Bild vor Augen, wie sie da auf Duddits' Bett saß, die Hände im Schoß gefaltet. Sie sah sich selbst, wie sie auf ein Klopfen hin um drei Uhr nachts die Haustür öffnete, nicht aufmachen wollte, aber einfach nicht anders konnte. Und dann standen statt der Lebenden die Toten vor ihr. Da standen Biber und Pete, und sie waren wieder so alt wie an dem Tag, an dem sie sie kennen gelernt hatte, an dem Tag, an dem sie Duddie vor Gott weiß was für einer Schweinerei gerettet und sicher nach Hause gebracht hatten. Vor ihrem geistigen Auge trug Biber seine Motorradjacke mit den vielen Reißverschlüssen und Pete den Pulli, auf den er so stolz gewesen war, den mit dem Aufdruck NASA auf der linken Brust. Sie standen kalt und blass vor ihr, in ihren Augen der stumpfe, traubenschwarze Blick von Leichen. Sie sah Biber vortreten. Er schenkte ihr kein Lächeln, ließ sich nicht anmerken, dass er sie kannte; als Joe »Biber« Clarendon seine fahle Seestern-Hand ausstreckte, wirkte er vollkommen geschäftsmäßig. Wir kommen Duddits holen, Mrs. Cavell. Wir sind tot, und er ist jetzt auch tot.

Ihre Hände verkrampften sich, und ein Schauer überlief sie. Duddits sah das nicht; er schaute jetzt wieder aus dem Fenster, und sein Blick wirkte eifrig und erwartungsfroh. Und ganz leise fing er wieder an zu singen.

»Uhbi-uhbi-duh, wo bistu? le ham etz wassu tun ...«

»Mr. Gray?«

Keine Antwort. Jonesy stand an der Tür zu dem Büro, das nun eindeutig sein Büro war - es war keine Spur mehr von den Gebrüdern Tracker übrig, vom Schmutz am Fenster mal abgesehen (das Bild des Mädchens mit gelüpftem Rock war durch van Goghs Ringelblumen ersetzt worden) - und wurde allmählich unruhig. Wonach suchte das Schwein?

»Mr. Gray, wo bist du?«

Wiederum keine Antwort, aber er hatte so das Gefühl, dass Mr. Gray wiederkam ... und dass er sich freute. Die dumme Sau freute sich.

Das gefiel Jonesy überhaupt nicht.

»Hör mal«, sagte Jonesy. Er hatte die Hände immer noch an die Tür seiner Zuflucht gepresst und lehnte nun auch die Stirn daran. »Ich habe einen Vorschlag für dich, mein Freund - du bist doch schon ein halber Mensch - wieso wirst du da nicht ein ganzer? Wir können bestimmt gute Nachbarn sein, und ich zeige dir dann alles. Eiscreme ist lecker, und Bier ist noch besser. Was hältst du davon?«

Vermutlich war es schon verlockend für Mr. Gray, wie es für ein formloses Wesen eben verlockend sein musste, eine Form geboten zu bekommen - ein Handel wie aus dem Märchen.

Aber es war nicht verlockend genug.

Das Geräusch des Anlassers. Der Motor sprang an.

»Wo wollen wir denn jetzt hin, alter Freund? Vorausgesetzt, wir kommen überhaupt von Standpipe Hill runter?«

Keine Antwort, nur das beunruhigende Gefühl, dass Mr. Gray etwas gesucht... und es gefunden hatte.

Jonesy eilte ans Fenster und sah eben noch, wie das Scheinwerferlicht des Dodge das Denkmal streifte. Die Gedenktafel war wieder zugeschneit, also waren sie eine ganze Weile hier geblieben.

Sich langsam und vorsichtig einen Weg durch Schneewehen bahnend, die bis an die Stoßstange reichten, fuhr der Dodge Ram den Hügel hinab.

Zwanzig Minuten später waren sie wieder auf dem Highway und fuhren erneut in Richtung Süden.

Helden

Es gelang Owen nicht, Henry mit lautem Zurufen zu wecken, dafür schlief er vor Erschöpfung einfach zu tief, und deshalb rief er ihn in Gedanken. Das fiel ihm umso leichter, je weiter sich der Byrus ausbreitete. Er wuchs jetzt an drei Fingern seiner rechten Hand und füllte seine linke Ohrmuschel mit seiner schwammigen, juckenden Wucherung fast vollständig aus. Er hatte auch ein paar Zähne verloren, aber in den Lücken schien nichts zu wachsen, zumindest noch nicht.

Kurtz und Freddy hatten sich, dank Kurtz' feiner Instinkte, nicht angesteckt, aber die Besatzungen der beiden übrig gebliebenen Blue-Boy-Kampfhubschrauber hatte es schlimm erwischt. Seit seinem Gespräch mit Henry im Schuppen hörte Owen die Stimmen seiner Kameraden, vor denen sich ein ungeahnter Abgrund aufgetan hatte. Vorläufig versteckten sie die Infektion ebenso wie er auch; die dicke Winterkleidung war da sehr hilfreich. Aber das würde nicht mehr lange so gehen, und sie wussten nicht, was sie tun sollten.

In dieser Hinsicht konnte sich Owen vermutlich glücklich schätzen. Er hatte wenigstens etwas, für das es sich lohnte aufzustehen.

Nachdem er hinter dem Schuppen am Elektrozaun eine weitere Zigarette geraucht hatte, ging Owen auf die Suche nach Henry und fand ihn, wie er einen steilen, überwucherten Hang hinabkletterte. Über ihm hörte man Kinder Baseball oder Softball spielen. Henry war ein Junge, ein Jugendlicher, und er rief nach jemandem - nach Janey? Jolie? Na egal. Er träumte, und Owen brauchte ihn in der wirklichen Welt. Er hatte Henry so lange schlafen lassen, wie er konnte (fast eine Stunde länger, als er beabsichtigt hatte), aber wenn sie die Sache ins Rollen bringen wollten, dann war jetzt der richtige Zeitpunkt dafür.

Henry, rief er.

Der Jugendliche sah sich erschreckt um. Bei ihm waren noch andere Jungs; drei, nein, vier Jungs, und einer von ihnen spähte in eine Art Schacht. Sie waren nur verschwommen zu erkennen, schwer zu sehen, und Owen interessierte sich sowieso nicht für sie. Henry war es, den er jetzt brauchte, aber nicht diesen pickeligen, schreckhaften Jugendlichen, sondern den Erwachsenen.

Henry, wach auf.

Nein, sie ist da drin. Wir müssen sie rausholen. Wir —

Sie ist mir scheißegal, wer sie auch ist. Wach auf.

Nein, ich -

Es wird Zeit, Henry, wach auf. Wach auf. Wach

auf, verdammt noch mai!

Henry setzte sich nach Luft schnappend auf und wusste nicht, wer und wo er war. Das war schon schlimm genug, aber noch schlimmer war: Er wusste nicht, wann er war. War er achtzehn oder fast achtunddreißig oder irgendwas dazwischen? Er hatte den Geruch von Gras in der Nase, hörte noch einen Ball auf einem Schläger aufprallen (einem Softball-Schläger; es waren Mädchen, die da spielten, Mädchen mit gelben Trikots), und er konnte Pete immer noch rufen hören: Sie ist da drin! Jungs, ich glaube, sie ist da drin!