Hörte sie und spürte sie auch.
»Los!«, rief Cambry und reihte sich in den großen Zug ein. »Los!«
Er hechtete über die aus dem Ofen schlagenden Flammen und lief los, ging mit seinem kleinen Geist in diesem großen Gedankenstrom auf.
Damit war die Operation Blue Boy praktisch beendet.
11
Nach drei Vierteln der Strecke quer über die Koppel blieb Henry stehen, rang nach Luft und hielt sich die pochende Brust. Hinter ihm lief das Westentaschen-Armageddon ab, das er ausgelöst hatte; und vor sich sah er nichts als Dunkelheit. Der Scheiß-Underhill war ihm weggelaufen, hatte -Ganz ruhig, mein Lieber - ganz ruhig.
Zweimal blitzten Lichter auf. Henry hatte in die falsche Richtung geguckt, das war alles; Owen wartete ein wenig links ab von der Südwestecke der Koppel. Jetzt sah Henry den kastenförmigen Umriss des Schneemobils ganz deutlich. Hinter ihm ertönten Schreie, Rufe, Befehlsgebrüll, Schüsse. Aber nicht so viele Schüsse, wie er erwartet hatte, doch es blieb keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen.
Beeil dich!, rief Owen. Wir müssen hier weg!
Ich komme so schnell ich kann. Warte.
Henry setzte sich wieder in Bewegung. Die Wirkung von Owens Wunderpillen ließ allmählich nach, und die Füße wurden ihm schwer. Sein Oberschenkel juckte unerträglich, und sein Mund auch. Er spürte, wie ihm das Zeug über die Zunge kroch. Es war wie das Sprudeln einer Limonade, das einfach nicht mehr aufhören wollte.
Owen hatte den Elektro- und den Stacheldraht gekappt. Jetzt stand er vor dem Schneemobil (es war in der Tarnfarbe Weiß lackiert, und insofern war es wirklich kein Wunder, dass Henry es nicht gesehen hatte), ein automatisches Gewehr mit dem Schaft auf der Hüfte aufgestützt, und schaute sich hektisch um. Die diversen Scheinwerfer sorgten dafür, dass er ein halbes Dutzend Schatten warf; sie gingen von seinen Stiefeln aus wie irrlichternde Uhrzeiger.
Owen packte Henry an der Schulter. Bist du okay?
Henry nickte. Als Owen ihn in Richtung Schneemobil zog, gab es eine laute, schrille Explosion, als wäre der weltgrößte Karabiner abgefeuert worden. Henry duckte sich, stolperte über seine eigenen Füße und wäre hingefallen, hätte Owen ihn nicht festgehalten.
Was -?
Propangas. Vielleicht auch Benzin. Schau.
Owen packte ihn an der Schulter und drehte ihn um. Henry sah eine riesige Feuersäule in die Nacht aufsteigen. Trümmer des Ladens - Bretter, Dachschindeln, glühende Cornflakespackungen, brennende Klopapierrollen - flogen in die Luft. Einige Soldaten sahen dem fasziniert zu. Andere liefen in den Wald. Um die Ausbrecher zu verfolgen, nahm Henry an, aber er hörte ihre Panik in seinem Kopf- Los.' Lauf! Los! Lauf! - und konnte es einfach nicht glauben. Später, als er Zeit hatte, darüber nachzudenken, verstand er, dass auch viele der Soldaten geflohen waren. In diesem Moment aber verstand er nichts. Es geschah alles viel zu schnell.
Owen drehte ihn wieder um und schob ihn auf den Beifahrersitz des Schneemobils, an einer herabhängenden Plane vorbei, die sehr nach Motoröl roch. Es war schön warm in der Fahrerkabine. Aus einem Funkgerät, das an das einfache Armaturenbrett geschraubt war, schnatterte und quakte es. Henry verstand nichts, bekam nur mit, wie panisch die Stimmen klangen. Als er das hörte, machte es ihn unglaublich froh -so froh, wie er seit dem Nachmittag nicht mehr gewesen war, an dem sie Richie Grenadeau und seinen fiesen Kumpanen etwas Gottesfurcht gelehrt hatten. So waren auch die Leute hier bei diesem Einsatz, dachte Henry: eine Bande
inzwischen erwachsener Richie Grenadeaus, die jetzt mit Gewehren statt mit getrockneter Hundekacke bewaffnet waren.
Da war etwas zwischen den Sitzen, ein Kasten mit zwei blinkenden gelben Lämpchen. Als sich Henry neugierig darüber beugte, schlug Owen die Plane neben dem Fahrersitz beiseite und schwang sich ans Steuer des Schneemobils. Er atmete heftig und schaute lächelnd zu dem brennenden Laden hinüber.
»Sei vorsichtig damit, Bruder«, sagte er. »Pass mit den Knöpfen auf.«
Henry nahm die Schachtel, die etwa die Ausmaße von Duddits geliebter Scooby-Doo-Lunchbox hatte. Die Knöpfe befanden sich unter den blinkenden Lämpchen. »Was ist das?«
Owen drehte den Zündschlüssel um, und der noch warme Motor des Schneemobils sprang augenblicklich an. Mit einem langen Knüppel legte Owen jetzt einen Gang ein. Er lächelte immer noch. In dem hellen Licht, das durch die Windschutzscheibe drang, sah Henry, dass unter den Augen des Mannes eine rötlich orangefarbene Spur Byrus wuchs wie Mascara. Und es wuchs ihm auch in den Augenbrauen.
»Viel zu hell hier«, sagte er. »Wir werden das mal ein bisschen dimmen.« Er wendete das Schneemobil erstaunlich flott. Es war wendig wie ein Motorboot. Henry wurde in seinen Sitz gedrückt. Die Schachtel mit den blinkenden Lämp-chen hielt er auf dem Schoß. In seiner gegenwärtigen Verfassung hätte er nichts dagegen gehabt, die nächsten fünf Jahre nicht mehr zu Fuß gehen zu müssen.
Owen schaute ihn kurz an, während er das Schneemobil auf die Swanny Poud Road zusteuerte, die jetzt nicht mehr als ein Graben zwischen Schneewällen war. »Du hast es geschafft«, sagte er. »Ich hatte meine Zweifel, dass du das hinkriegst, das gebe ich offen zu, aber du hast es echt durchgezogen. «
»Ich hab's dir doch gesagt: Ich bin ein Meister im Motivieren. « Und außerdem, sandte er, werden die meisten von ihnen so oder so sterben.
Egal. Du hast ihnen zu einer Chance verhelfen. Und jetzt
Weitere Schüsse ertönten, aber erst als eine Kugel an dem Blech genau über ihren Köpfen entlangpfiff, wurde Henry bewusst, dass sie das Ziel waren. Mit lautem Klirren prallte eine weitere Kugel von einer Kette des Schneemobils ab, und Henry duckte sich ... als ob das irgendwas nützen würde.
Immer noch lächelnd, wies Owen mit der behandschuhten Hand nach rechts. Henry spähte in diese Richtung, und zwei weitere Kugeln prallten von der gedrungenen Karosserie des Schneemobils ab. Henry zuckte beide Male zusammen; Owen schien es nicht einmal zu bemerken.
Henry sah eine Siedlung aus Wohncontainern, einige mit Markennamen wie Sysco und Scott Paper drauf. Vor diesen Containern stand eine Caravan-Kolonie, und vor dem größten, einem Winnebago, der Henry wie eine Villa auf Rädern vorkam, standen sechs oder sieben Männer und feuerten auf das Schneemobil. Und dafür, dass sie so weit weg waren, der Wind immer noch heftig pfiff und immer noch schweres Schneetreiben herrschte, trafen sie viel zu oft. Andere Männer, manche nur teilweise bekleidet (ein bulliger Typ kam mit nackter Brust, die auch einem Comic-Superhelden gut angestanden hätte, durch den Schnee gesprintet), gesellten sich zu der Gruppe. In ihrer Mitte stand ein großer Mann mit grauem Haar. Neben ihm stand ein stämmigerer, rothaariger Kerl. Während Henry zusah, legte der hagere Mann sein Gewehr an und feuerte, anscheinend ohne zu zielen. Ein Spanng erklang, und Henry spürte direkt vor seiner Nase ein kleines, fieses Ding vorbeizischen.
Owen lachte doch tatsächlich. »Der mit dem grauen Haar ist Kurtz. Das ist hier der Chef, und der Scheißkerl kann echt schießen.«
»Kurtz? Der heißt Kurtzl Du willst mich doch verschei-ßem.«
Weitere Kugeln prallten von den Ketten und der Karosserie des Schneemobils ab. Henry spürte noch einmal etwas durch die Fahrerkabine zischen, und plötzlich verstummte das Funkgerät. Sie entfernten sich immer weiter von den Schützen vor dem Winnebago, aber das spielte anscheinend keine Rolle. Henrys Meinung nach konnten die alle verdammt gut schießen. Es war nur eine Frage der Zeit, dass einer auch mal traf ... und doch sah Owen froh aus. Henry ging auf, dass er sich vielleicht mit jemandem eingelassen hatte, der noch selbstmordgefährdeter war als er selbst.
»Der Rothaarige ist Freddy Johnson. Die Musketiere sind alles Kurtz' Jungs, die ursprünglich - hupps, pass auf!«
Ein weiteres Spanng, wieder eine summende Stahlbiene -diesmal zwischen ihnen -, und plötzlich war der Knauf des Kupplungshebels verschwunden. Owen brach in Gelächter aus. »Kurtz!«, rief er. »Darauf wette ich! Drei Jahre übers vorgeschriebene Pensionsalter hinaus, und er schießt immer noch wie Annie Oakley!« Er schlug mit der Faust auf den Steuerknüppel. »Aber jetzt reicht's. Jetzt ist Schluss mit lustig. Knips ihnen die Lichter aus, mein Lieber.«