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Owen sagte nichts. Er kniff die Augen zusammen und spähte durch das Schneetreiben, suchte im fahlen Frühmorgenlicht nach dem Straßenschild der Dearborn Street... und da war es ja, direkt voraus. Ein Pflug, der die Kansas Street geräumt hatte, hatte vor der Einfahrt zur Dearborn einen Schneewall hinterlassen, aber Owen dachte, für den Humvee wäre das kein Problem.

»Es ist ja nicht so, dass ich nicht mehr an ihn gedacht hätte«, sagte Henry. Er wollte in Gedanken fortfahren und blieb dann doch bei mündlicher Sprache. Es war zu aufschlussreich, wenn er an Duddits dachte. »Wir haben alle an ihn gedacht. Und Jonesy und ich wollten ihn in diesem Frühjahr besuchen. Dann hatte Jonesy seinen Unfall, und ich habe die ganze Sache aus den Augen verloren. Ist das so verwunderlich?«

»Überhaupt nicht«, sagte Owen milde. Er schlug das Lenkrad nach rechts ein, dann in die Gegenrichtung und trat das Gaspedal durch. Der Humvee traf so heftig auf dem vereisten, dicht gepackten Schneewall auf, dass es sie beide in ihren Sicherheitsgurten nach vorne stieß. Dann waren sie durch, und Owen schlängelte sich weiter und wich dabei den auf beiden Straßenseiten geparkten, eingeschneiten Autos aus.

»Ich muss mir von jemandem, der eben noch vorhatte, ein paar hundert Zivilisten zu grillen, kein schlechtes Gewissen machen lassen«, grummelte Henry.

Owen stieg voll auf die Bremse und schleuderte sie beide wieder in ihren Sicherheitsgurten nach vorn, diesmal so heftig, dass die Gurte einrasteten. Der Humvee kam schräg mitten auf der Straße zum Stehen.

»Halt jetzt endlich die Schnauze.«

Misch dich in nichts ein, wovon du keine Ahnung hast. »Deinetwegen bin ich wahrscheinlich« so gut wie tot

»und deshalb kannst du dir dein« haltloses

(Bild einer verzogen aussehenden Göre, die mit vorgeschobener Unterlippe schmollt)

» Rechtfertigungsgefasel«

echt schenken.

Henry starrte ihn schockiert und verdattert an. Wann hatte zum letzten Mal jemand so mit ihm geredet? Die Antwort lautete wahrscheinlich: noch nie.

»Mir geht es nur um eines«, sagte Owen. Sein Gesicht war blass, sah angespannt und erschöpft aus. »Ich will deinen Typhoid Jonesy finden und ihn aufhalten. Klar? Ich scheiß auf deine kostbaren Gefühle, ich scheiße drauf, wie müde du bist, und ich scheiße auf dich. So ist das.«

»Na gut«, sagte Henry.

»Ich muss mir keine Moralvorträge anhören von einem Typen, der vorhat, sich sein überfressenes Hirn rauszupusten.«

»Schon gut.«

»Also fick du deine Mutter und stirb.«

Schweigen im Humvee. Und von außen hörte man nur das monotone Staubsaugerdröhnen des Winds.

Schließlich sagte Henry: »Wir machen das folgendermaßen: Ich ficke deine Mutter und sterbe dann, und du fickst meine Mutter und stirbst. So kommen wir wenigstens um den Inzest rum.«

Owen lächelte. Henry erwiderte sein Lächeln.

Was machen Jonesy und Mr. Gray?, fragte Owen Henry. Weißt du's?

Henry leckte sich die Lippen. Das Jucken in seinem Bein hatte sehr nachgelassen, aber seine Zunge schmeckte wie ein versiffter Flokati. »Nein. Ich dringe nicht zu ihnen durch. Das ist wahrscheinlich Grays Schuld. Und unser furchtloser Anführer? Kurtz? Er holt auf, nicht wahr?«

»Ja. Wenn wir irgendeinen Vorsprung behalten wollen, müssen wir uns beeilen.«

»Dann beeilen wir uns.« Owen kratzte sich das rote Zeug, das er seitlich am Gesicht hatte, betrachtete die Bröckchen, die sich dabei lösten, und fuhr dann weiter.

Nummer 41, hast du gesagt?

Ja. Owen? v

Was? i-,

Ich habe Angst.

Vor Duddits?

Ja, irgendwie schon.

Und wieso?

Ich weiß es nicht.

Henry sah Owen mit niedergeschlagenem Blick an. Ich habe so das Gefühl, dass etwas mit ihm nicht in Ordnung ist.

Ihre nächtliche Fantasie wurde Wirklichkeit, und als es an der Tür klopfte, war Roberta unfähig aufzustehen. Ihre Beine fühlten sich wie aus Wasser an. Die Nachtschwärze war fort, war einem fahlen, unheimlichen Morgenlicht gewichen, das auch nicht viel besser war, und da standen sie vor dem Haus, Pete und Biber, die Toten, und wollten ihren Sohn holen.

Da pochte die Faust wieder an die Tür, dass die Bilderrahmen an den Wänden erzitterten. In einem war eine Titelseite der Derry News. Das Foto zeigte Duddits, seine Freunde und Josie Rinkenhauer, die alle die Arme umeinander gelegt hatten und über sämtliche Wangen strahlten (wie gut Duddits auf diesem Bild aussah, wie stark und normal), und die Schlagzeile darüber lautete: Schulkinder spielen detektiv UND FINDEN VERMISSTES MÄDCHEN.

Bumm! Bumm! Bumm!

Nein, dachte sie, ich bleibe einfach hier sitzen, und irgendwann gehen sie dann wieder weg, sie müssen einfach wieder Weggehen, denn Tote muss man hereinbitten, und wenn ich hier sitzen bleibe und —

Aber dann lief Duddits an ihrem Schaukelstuhl vorbei -er lief, wo es ihn heutzutage doch schon erschöpfte, einfach nur zu gehen, und in seinen Augen lag wieder der alte Glanz, sie waren so gute Jungs gewesen und hatten ihn so glücklich gemacht, aber jetzt waren sie tot, sie kamen durch den Sturm zu ihm und waren tot -

»Duddie, nicht!«, rief sie, aber er achtete nicht auf sie. Er eilte an der gerahmten Zeitungsseite vorbei - Duddits Cavell auf der Titelseite, Duddits Cavell ein Held, es geschehen noch Zeichen und Wunder! -, und sie hörte, was er rief, als er im abebbenden Sturm die Tür aufmachte:

»Ennie! Ennie! ENNIE!«

8

Henry machte den Mund auf - aber was er sagen sollte, wusste er nicht, und dann kam auch nichts. Er war wie vom Schlag gerührt. Das war nicht Duddits, konnte nicht Duddits sein - das war irgendein kranker Onkel oder älterer Bruder, blass und unter der hochgeschobenen Red-Sox-Kappe anscheinend auch kahlköpfig. Er hatte stoppelige Wangen, getrocknetes Blut um die Nasenlöcher und tiefe dunkle Ringe unter den Augen. Und doch -»Ennie! Ennie! Ennie!«

Der große, blasse Fremde da in der Tür warf sich Henry so überschwänglich entgegen wie früher Duddits immer und stieß ihn auf der verschneiten Eingangstreppe nicht durch sein Gewicht um - er war so leicht wie eine Feder -, sondern weil Henry auf diesen Überfall nicht gefasst war. Wenn Owen ihn nicht gehalten hätte, wäre er mit Duddits in den Schnee gepurzelt.

»Ennie! Ennie!«

Lachend. Weinend. Ihn auf seine alte Weise abknutschend. Ganz weit hinten im Lagerhaus seiner Erinnerungen sagte Biber Clarendon: Wenn ihr irgendwem erzählt, dass ich das gemacht habe ... Und Jonesy entgegnete: Ja, ja, dann redest du kein Wort mehr mit uns, du blöder Wichser. Es war eindeutig Duddits, der Henry da die mit Byrus übertupften Wangen abknutschte ... aber diese fahlen Wangen, was war das? Und er war auch so dünn -nein, mehr als nur das, abgezehrt -, und was war das? Das Blut an seinen Nasenlöchern, der Geruch, der von seiner Haut ausging ... es war nicht der gleiche Geruch, der von Becky Shue ausgegangen war, und nicht ein Geruch wie in ihrer zugewucherten Hütte, aber dennoch war es ein tödlicher Geruch.

Und da war Roberta, sie stand im Flur neben einem Foto, das Duddits und Alfie zeigte, wie sie bei den Derry Days lachend Karussell fuhren und die wild blickenden Plastikpferde dabei ganz klein wirkten.

Bin nicht zu Alfies Beerdigung gegangen, habe aber eine Karte geschickt, dachte Henry und verabscheute sich selbst.

Sie rang die Hände, ihre Augen schwammen in Tränen, und obwohl sie an Brust und Hüfte zugenommen hatte und ihr Haar jetzt fast gänzlich ergraut war, hatte Henry sie auf Anhieb erkannt, aber Duddits ... o Mann, Duddits ...

Henry sah sie an und umarmte seinen alten Freund, der immer noch seinen Namen rief. Er tätschelte Duddits' Schulterblatt. Es fühlte sich so leicht und zerbrechlich an wie die Knochen eines Vogelflügels.

»Roberta«, sagte er. »Roberta, mein Gott! Was hat er denn?«