»Biber, Henry ist Psychiater.«
»Ich weiß, aber immerhin ist er Arzt, und ich glaube, der Typ braucht einen Arzt.«
Henry war durchaus Arzt, musste es sein, um seine Zulassung als Seelenklempner zu bekommen, hatte aber, soweit Jonesy wusste, immer nur als Psychiater praktiziert. Aber er verstand, was Biber meinte.
»Glaubst du immer noch, dass sie es zurück schaffen, Biber?«
Biber seufzte. »Vor 'ner halben Stunden hätte ich noch
gesagt, na klar, aber jetzt kommt es ja so richtig dicke. Ich glaube schon.« Er schaute Jonesy mit düsterer Miene an, die gar nicht zu dem sonst immer so unbeschwerten Biber Clarendon passte. »Hoffentlich«, sagte er.
KAPITEL 3
Henrys Scout
Während er den Scheinwerfern des Scout durch den immer dichter werdenden Schneefall folgte und sich so wie durch einen Tunnel über die Deep Cut Road zu ihrer Hütte durchbuddelte, überlegte Henry, wie er es anstellen sollte.
Es gab da natürlich die Hemingway-Lösung - als Student an der Wesleyan University hatte er es in einem Aufsatz so genannt und offenbar schon damals daran gedacht -, und zwar auf sich selbst bezogen und nicht als weiteren Schritt zum Bestehen irgendeines affigen Seminars. Für die Hemingway-Lösung nahm man eine Flinte, und Henry hatte jetzt sogar eine ... nicht dass er es hier tun würde, unter den Augen der anderen. Die vier hatten viel Schönes dort auf ihrer Hütte erlebt, und es wäre ihnen gegenüber unfair, es dort zu tun. Das würde den Ort für Pete und Jonesy besudeln - und für Biber auch, vielleicht am meisten sogar für Biber, und das wäre nicht recht. Aber er würde es bald tun, er spürte es kommen wie ein Niesen. Schon komisch, das Lebensende mit einem Niesen zu vergleichen, aber darauf lief es wahrscheinlich hinaus. Einfach Hatschi! und dann: hello dark-ness, my Jd friend.
Wenn man die Hemingway-Lösung wählte, zog man sich vorher Schuhe und Socken aus. Das Gewehr stand mit dem Schaft auf dem Boden. Die Mündung des Laufs nahm man m den Mund. Mit dem großen Zeh drückte man ab. Nicht vergessen, dachte Henry, als der Scout auf dem Neuschnee hinten ein wenig ausbrach und er gegensteuerte - die Spuren waren dabei hilfreich, und das war im Grunde auch alles, woraus diese Straße bestand: zwei parallele Spuren von den Waldtraktoren, die hier im Sommer langfuhren. Wenn du es auf diese Weise machst, dann nimm vorher ein Abführmittel, und mach es erst, nachdem du zum letzten Mal kacken warst. Du kannst den Leuten, die dich finden, ruhig diese zusätzliche Sauerei ersparen.
»Vielleicht solltest du etwas langsamer fahren«, sagte Pete. Er hatte sich ein Bier zwischen die Oberschenkel geklemmt, das schon halb leer war, aber eines reichte nicht, um Pete zu beruhigen. Noch drei oder vier Bier, und Henry konnte mit hundert Sachen diese Straße entlangbrettern, und Pete würde einfach nur daneben sitzen und eine seiner entsetzlichen Pink-Floyd-Platten mitsingen. Und er konnte wahrscheinlich durchaus hundert fahren, ohne mehr zu riskieren als eine weitere Delle vorn in der Stoßstange. Wenn man in den Spuren dieser Straße blieb, fuhr man, auch bei Schnee, wie auf Gleisen. Wenn es weiter schneite, würde sich das vielleicht ändern, aber bisher war alles in Ordnung.
»Mach dir keine Sorgen, Pete. Ich hab alles im Griff.«
»Willst du'n Bier?«
»Nicht solange ich fahre.«
»Nicht mal hier draußen in West Overshoe?«
»Später.«
Pete gab es auf und ließ Henry auf dieser weißen Straße durch den Wald den Lichtkegeln der Scheinwerfer folgen. Ließ ihn mit seinen Gedanken allein, und genau das war es, was er wollte. Es war, als würde man mit der Zungenspitze immer wieder zu einer blutenden Wunde im Mund zurückkehren und sie untersuchen; aber genau das war es, was er wollte.
Man konnte Tabletten nehmen. Man konnte sich in der Badewanne eine Tüte über den Kopf ziehen. Man konnte sich ertränken. Man konnte sich in die Tiefe stürzen. Sich mit einer Pistole ins Ohr zu schießen war zu unsicher - die Chance war zu groß, dass man gelähmt erwachte -, ebenso wie sich die Handgelenke aufzuschlitzen; das war etwas für Leute, die noch übten, nein; aber die Japaner hatten eine Methode, die Henry sehr interessierte. Man binde sich ein Seil um den Hals. Das andere Ende binde man um einen großen Stein. Man stelle den Stein auf einen Stuhl und setze sich so hin, dass man mit dem Rücken an etwas lehnt und nicht nach hinten kippen kann. Man werfe den Stuhl um, und der Stein rollt los. Dann lebt man noch drei bis fünf Minuten in immer tieferer Bewusstlosigkeit. Grau geht in Schwarz über; hello darkness, my old friend. Er hatte ausgerechnet in einem von Jonesys geliebten Kinsey-Milhone-Krimis von dieser Methode gelesen. Kriminalromane und Horrorfilme -das war Jonesys Ding.
Alles in allem tendierte Henry eher zur Hemingway-Lösung.
Pete trank sein erstes Bier aus, machte sich ein zweites auf und sah schon viel zufriedener aus. »Was hältst du davon?«, fragte er.
Henry fühlte sich aus einem anderen Universum gerufen, aus einer Welt, in der die Lebenden auch wirklich leben wollten. Und wie stets in letzter Zeit machte ihn das gereizt. Aber es war wichtig, dass niemand Verdacht schöpfte, aber er hatte das Gefühl, dass Jonesy bereits etwas ahnte. Und Biber vielleicht auch. Sie waren es, die manchmal in ihn hineinschauen konnten. Pete hatte keine Ahnung, konnte aber vielleicht den anderen gegenüber etwas Falsches sagen, wie beschäftigt etwa der olle Henry immer wirke, als würde ihn irgendwas bedrücken, und das wollte Henry nicht. Es würde der letzte gemeinsame Jagdausflug der alten Kansas-Street-an§ S£in, der roten Korsaren aus der dritten und vierten Klasse, und er wollte, dass es schön wurde. Er wollte, dass sie schockiert waren, wenn sie davon erfuhren, auch Jonesy, er schon immer am tiefsten in ihn hineingesehen hatte. Er wollte, dass sie sagten, sie hätten nichts geahnt. Lieber so, als dass die drei mit gesenktem Kopf dahockten, einander kaum noch in die Augen zu sehen wagten und dachten, sie hätten es wissen müssen, hätten es kommen sehen und etwas unternehmen müssen. Und so kam er in diese andere Welt zurück und heuchelte mühelos und überzeugend Interesse. Wer konnte das schließlich besser als ein Seelenklempner? »Was halte ich wovon?«
Pete verdrehte die Augen. »Bei Gosselin's, du Blitzmerker! Das ganze Zeug, das der alte Gosselin erzählt hat.«
»Peter, sie nennen ihn ja nicht umsonst den alten Gosselin. Er ist mindestens achtzig, und wenn es eines gibt, woran bei alten Leuten bestimmt kein Mangel herrscht, dann ist es Hysterie.« Der Scout - mit seinen vierzehn Jahren auch nicht mehr der Jüngste und längst über die fünf Neunen auf dem Kilometerzähler hinaus — sprang aus der Spur und geriet sofort ins Schlingern, Allradantrieb hin oder her. Henry setzte zurück in die Spur und hätte fast gelacht, als Pete das Bier herunterfiel und er schrie: »Ey! Scheiße! Pass doch auf!«
Henry ging vom Gas, bis er den Scout wieder im Griff hatte, und trat dann absichtlich zu schnell und zu heftig wieder aufs Gaspedal. Der Scout geriet wieder ins Schlingern, diesmal in die entgegengesetzte Richtung, und Pete schrie wieder auf. Henry nahm erneut Gas weg, und der Scout sprang zurück in die Spuren, wo er dann wie auf Gleisen fuhr. Das Schöne daran, wenn man beschlossen hatte, sich das Leben zu nehmen, war es anscheinend, dass man vor solchen Kleinigkeiten keine Angst mehr hatte. Die Scheinwerfer drangen durch das weiße Treiben Myriaden tanzender Schneeflocken, die, glaubte man der herkömmlichen Überzeugung, alle einzigartig waren.
Pete hob sein Bier auf (es war nur wenig verschüttet) und tätschelte seine Bierkiste. »Fährst du nicht ein bisschen zu schnell?«
»Ach was«, sagte Henry, und fuhr dann, als wäre er mit dem Wagen nie ins Schleudern geraten (das war er durchaus) und als hätte es den Fluss seiner Gedanken nicht unterbrochen (das hatte es nicht), fort: »Gruppenhysterie findet man vor allem bei ganz alten und ganz jungen Menschen. Das ist ein auf meinem Gebiet ausführlich belegtes Phänomen, und bei den Soziologie-Schwachköpfen nebenan auch.«