Henry schaute kurz hinunter und sah, dass er fast sechzig Stundenkilometer fuhr, was bei diesen Straßenverhältnissen tatsächlich ein wenig zu schnell war. Er ging vom Gas. »Besser so?«
Pete nickte. »Nimm's mir nicht krumm, du bist ein fabelhafter Fahrer, aber es schneit, Mann. Und außerdem haben wir den Proviant dabei.« Er wies mit dem Daumen über seine Schulter auf die zwei Tüten und zwei Kartons auf der Rückbank. »Außer den Hotdogs haben wir mindestens drei Packungen Makkaroni mit Käse von Kraft. Du weißt ja, Biber kann ohne das Zeug nicht leben.«
»Ich weiß«, sagte Henry. »Ich ess das auch gern. Erinnerst du dich an diese Geschichten über Teufelsanbetungen in Washington, die Mitte der Neunziger die Runde machten? Die ließen sich zurückverfolgen zu mehreren alten Leuten, die mit ihren Kindern - in einem Fall auch Enkelkindern - in zwei Kleinstädten südlich von Seattle wohnten. Die massenhaften Berichte über sexuellen Missbrauch in Kindertagesstätten fingen anscheinend damit an, dass gleichzeitig in Delaware und Kalifornien Mädchen, die dort als Aushilfe arbeiteten, blinden Alarm schlugen. Möglicherweise ein Zufall, aber vielleicht war die Zeit auch einfach reif dafür, dass man an solche Geschichten glauben wollte, und diese Mädchen haben das gewittert.«
Wie flüssig ihm doch die Worte aus dem Munde quollen, rast als hätten sie noch eine Bedeutung. Henry sprach, und der Mann neben ihm lauschte, tumb bewundernd, und niemand (und schon gar nicht Pete) hätte dabei vermuten können, dass Henry eigentlich an die Flinte dachte, an die Schlinge, das Auspuffrohr, die Tabletten. Sein Kopf steckte voller Endlosbänder, das war alles. Und seine Zunge war das Abspielgerät.
»In Salem«, fuhr Henry fort, »haben die alten Männer und die jungen Frauen ihre Hysterie vereint, und voilä, schon hast du die Hexenprozesse von Salem.«
»Den Film habe ich mit Jonesy gesehen«, sagte Pete. »Da hat Vincent Price mitgespielt. Hat mir eine Heidenangst eingejagt.«
»Das glaube ich«, sagte Henry und lachte. Einen kurzen, verrückten Moment lang hatte er gedacht, Pete hätte Hexenjagd gemeint. »Und wann werden hysterische Ideen besonders glaubhaft? Sobald die Ernte eingefahren ist und das Wetter schlecht wird natürlich - dann hat man Zeit, Geschichten zu erzählen und Unfrieden zu stiften. In Wenat-chee, Washington, sind es Teufelsanbetung und Kinderopfer in den Wäldern. In Salem waren es Hexen. Und in Jefferson Tract, Heimstätte des unvergleichlichen Gosselin's Market, sind es merkwürdige Lichter am Himmel, vermisste Jäger und Truppenmanöver. Ganz zu schweigen von dem komischen roten Zeug, das an den Bäumen wächst.«
»Mit den Hubschraubern und Soldaten, das weiß ich nicht, aber so viele Leute haben diese Lichter gesehen, dass sie jetzt eigens eine Stadtversammlung abhalten. Das hat mir der alte Gosselin erzählt, als du die Büchsen holen warst. Und außerdem werden diese Leute in Kineo wirklich vermisst. Das ist keine Hysterie.«
»Nur vier kurze Einwände«, sagte Henry. »Erstens kann man in Jefferson Tract keine Stadtversammlung abhalten, weil es hier gar keine Stadt gibt - auch Kineo ist nur eine lose besiedelte Gegend mit einem Namen. Zweitens wird die Versammlung am Franklin-Ofen des alten Gosselin abgehalten, und die Hälfte der Teilnehmer werden hackedicht sein von Pfefferminzschnaps oder Coffee Brandy.«
Pete kicherte.
»Drittens: Was haben sie denn sonst zu tun? Und viertens: Was die Jäger angeht - die hatten wahrscheinlich entweder keine Lust mehr und sind nach Hause gefahren, oder sie haben sich alle besoffen und wollten im Spielcasino in Carra-bassett das große Los ziehen.«
»Meinst du, ja?« Pete wirkte geknickt, und Henry hatte ihn plötzlich sehr lieb. Er tätschelte ihm das Knie.
»Hab keine Angst«, sagte er. »Die Welt ist voller Seltsamkeiten.« Wäre die Welt wirklich voller Seltsamkeiten gewesen, dann wäre Henry, dachte er, nicht so erpicht darauf gewesen, sie zu verlassen, aber wenn Psychiater eines beherrschten (mal davon abgesehen, Rezepte für Prozac, Pa-xil und Arabien auszustellen), dann war es das Lügen.
»Aber es kommt mir doch schon ziemlich merkwürdig vor, dass gleichzeitig vier Jäger verschwinden.«
»Ach was«, sagte Henry und lachte. »Einer wäre sonderbar, zwei wären merkwürdig. Aber vier? Die sind gemeinsam abgehauen, verlass dich drauf.«
»Wie weit ist es noch zur Hütte, Henry?« Was übersetzt bedeuten sollte: Habe ich noch Zeit für ein Bier;"
Henry hatte den Tageskilometerzähler bei Gosselin's auf Null gestellt, eine alte Angewohnheit noch aus der Zeit, als er für den Bundesstaat Massachusetts gearbeitet und zwölf Cent pro Meile bekommen hatte und so viele psychotische Tattergreise, wie sein Herz begehrte. Die Entfernung vom Laden zur Hütte war einfach zu merken: 22,2 Meilen. Der Zähler zeigte jetzt 12,7 an, was bedeutete, dass -
»Pass auf!«, schrie Pete, und Henry schaute wieder nach vorn.
Der Scout war eben mitten im Wald auf der Kuppe eines steil ansteigenden Hügels angelangt. Hier schneite es heftiger denn je, aber Henry hatte das Fernlicht an und sah die Person klar und deutlich, die gut dreißig Meter vor ihnen auf der Straße saß. Die Person trug einen Dufflecoat, eine orangefarbene Weste, die sich wie Supermans Cape im auffrischenden Wind blähte, und hatte eine russische Pelzmütze auf. An der Mütze waren orangefarbene Bänder befestigt, und auch die flatterten im Wind und erinnerten Henry an die Girlanden, die man manchmal über den Höfen von Gebrauchtwagenhändlern sah. Der Typ hockte mitten auf der Straße wie ein Indianer, der die Friedenspfeife rauchen wollte, und regte sich nicht, als das Scheinwerferlicht ihn erfass-te. Für einen Moment sah Henry die Augen der sitzenden Gestalt, weit geöffnet, aber ganz ruhig, ganz ruhig und klar und ausdruckslos, und Henry dachte: So würden meine Augen auch ausseben, wenn ich nicht so gut auf sie Acht geben würde.
Es blieb keine Zeit zu bremsen, nicht hier im Schnee. Henry riss das Lenkrad nach rechts und spürte den Schlag, als der Scout wieder aus den Spuren sprang. Er erhaschte noch einen Blick auf das weiße, ruhige Gesicht und hatte noch Zeit zu denken: Ja, verdammt! Das ist ja eine Frau!
Sobald er aus den Spuren war, geriet der Scout wieder ins Schlingern. Diesmal steuerte Henry gegen und stellte bewusst die Räder quer, um besser Halt zu finden, da er, ohne darüber nachzudenken (zum Denken blieb keine Zeit) wuss-te, dass darin die einzige Chance der Straßenhockerin bestand -wenn auch keine sehr große.
Pete schrie, und aus dem Augenwinkel sah Henry, wie er sich die Hände vors Gesicht hielt, die Handflächen in einer abwehrenden Geste nach außen gekehrt. Der Scout wollte sich quer stellen, worauf Henry das Lenkrad herumriss und versuchte, das Schlittern wenigstens so weit im Griff zu behalten, damit er der Frau mit dem Heck des Wagens nicht das Gesicht einschlug. Das Lenkrad drehte sich mit Schwindel erregender Schnelligkeit in seinen behandschuhten Händen. Vielleicht drei Sekunden lang schoss der Scout die zugeschneite Deep Cut Road im Winkel von fünfundvierzig Grad entlang, wofür teilweise Henry Devlin und teilweise der
Sturm verantwortlich waren. Der Schnee stieb hoch und sprühte an ihnen vorbei, und die Scheinwerfer warfen zwei dahinrasende Spots auf die schneebedeckten Kiefern am linken Straßenrand. Drei Sekunden lang, allerhöchstem, aber das reichte. Er sah die Gestalt vorbeihuschen, als würde sie sich bewegen und nicht das Auto, nur dass sie sich nicht bewegte, nicht einmal, als die rostige Kante der Stoßstange des Scout nur wenige Zentimeter an ihrem Gesicht vorbeisauste.
Verpasst!, frohlockte Henry. Hab dich verpasst, du dumme Sau! Dann verlor er das letzte bisschen Kontrolle, und der Scout stellte sich quer. Der Wagen ruckelte, als er wieder in die Spuren fiel, nur diesmal quer. Er wollte sich immer noch umdrehen - Vordermann! Hintermann!, hatten sie damals immer gerufen, wenn sie in der Grammar School anstehen mussten -, doch dann prallte er mit heftigem Knall auf einen verborgenen Felsbrocken oder vielleicht einen kleinen umgestürzten Baum und überschlug sich, erst auf die Fahrerseite, wo die Fenster zu glitzernden Glaskrümeln zerplatzten, und drehte sich dann aufs Dach. Henrys oberer Sicherheitsgurt riss, und er wurde mit der linken Schulter gegen das Dach geschleudert. Mit den Eiern stieß er gegen die Lenksäule, was augenblicklich einen lähmenden Schmerz auslöste. Der Blinkerhebel brach an seinem Oberschenkel, und er spürte sofort Blut in seine Jeans sickern. Der Bordeaux, wie die Boxreporter früher immer gesagt hatten, schaut hin, Leute, jetzt fließt der Bordeaux. Pete rief etwas oder schrie oder beides.