Etliche Sekunden lief der Motor des umgekippten Scout noch weiter, und dann tat die Schwerkraft ein Übriges, und der Motor soff ab. Jetzt war er nur noch ein umgekipptes Autowrack auf der Straße, dessen Räder sich noch drehten und dessen Scheinwerfer die schneebeladenen Bäume am linken Straßenrand beschienen. Ein Scheinwerfer erlosch, aber der andere leuchtete weiter.
Henry hatte mit Jonesy viel über dessen Unfall gesprochen (hatte ihm hauptsächlich zugehört - Therapie, das war kreatives Zuhören), und er wusste, dass sich Jonesy an den eigentlichen Zusammenprall nicht erinnern konnte. Soweit Henry das beurteilen konnte, hatte er selbst nach dem Umkippen des Scout nie das Bewusstsein verloren, und die Kette der Erinnerungen blieb intakt. Er erinnerte sich, wie er nach der Schließe des Sicherheitsgurts getastet hatte und sich ganz aus dem Scheißding hatte lösen wollen, während Pete gebrüllt hatte, sein Bein sei gebrochen, sein Bein sei gebrochen, verdammt noch mal. Er erinnerte sich an das stete, regelmäßige Wick-wumm, Wick-wumm der Scheibenwischer und an die leuchtenden Armaturen, die nun auf dem Kopf standen. Er fand die Gurtschließe, verlor sie wieder, fand sie dann wieder und drückte drauf. Der Schoßgurt löste sich, und Henry plumpste aufs Wagendach und zerschlug dabei die Plastikhülle der Innenbeleuchtung.
Er tastete um sich, fand den Türgriff und konnte ihn nicht bewegen.
»Mein Bein! O Mann, mein Scheiß-ßem/«
»Sei jetzt mal still«, sagte Henry. »Dein Bein ist in Ordnung.« Als ob er das wusste. Er fand den Türgriff wieder und zerrte daran, aber ohne Erfolg. Dann ging ihm der Grund dafür auf: Er lag über Kopf und zerrte in die falsche Richtung. Er packte andersrum zu, und die bloßgelegte Birne der Innenbeleuchtung glühte ihm direkt ins Auge, als sich die Tür öffnete. Er stieß mit dem Handrücken dagegen und rechnete nicht damit, dass sie nachgeben würde. Die Karosserie war wahrscheinlich verzogen, und er konnte froh sein, wenn er sie zehn Zentimeter weit aufbekam.
Doch die Tür quietschte, und plötzlich spürte er Schneeflocken kalt um Gesicht und Hals wirbeln. Er schob fester und stieß mit der Schulter gegen die Tür, und erst als sich seine Beine von der Lenksäule lösten, wurde ihm klar, dass sie dort festgehangen hatten. Er schlug halbwegs einen Purzelbaum und betrachtete plötzlich den Schritt seiner Jeans ganz aus der Nähe, als hätte er seine vor Schmerz pochenden Eier küssen und trösten wollen. Ihm klappte das Zwerchfell zusammen, und das Atmen fiel ihm schwer.
»Henry! Hilf mir! Ich hänge fest! Ich hänge fest, verdammt!«
»Augenblick.« Seine Stimme klang gepresst und hoch, er kannte sie kaum wieder. Jetzt sah er, wie sich sein rechtes Hosenbein oben mit Blut vollsog. Der Wind in den Kiefern klang wie Gottes Staubsauger.
Er packte die Mittelsäule, froh, dass er beim Fahren die Handschuhe anbehalten hatte, und riss mit aller Kraft daran -er musste hier raus, musste sein Zwerchfell entlasten, damit er wieder atmen konnte.
Für einen Moment geschah gar nichts, und dann flutschte Henry hinaus wie ein Korken aus einer Flasche. Er lag für einen Augenblick keuchend da und schaute zu dem wirbelnden Netz aus fallenden Schneeflocken empor. Am Himmel war nichts Ungewöhnliches zu sehen; das hätte er vor Gericht auf einen ganzen Stapel Bibeln geschworen. Nur die niedrig hängenden grauen Wolkenbäuche und das psychedelisch wirkende Schneegestöber.
Pete rief immer wieder und zusehends panisch seinen Namen.
Henry drehte sich um und kam auf die Knie, und als ihm das gelungen war, stand er schwankend auf. Er stand einen Moment lang da, im Wind schwankend, und wartete ab, ob sein blutendes linkes Bein einknicken und ihn zurück in den Schnee werfen würde. Als es das nicht tat, humpelte er um das Heck des umgestürzten Scout herum, um nachzusehen, wie er Pete helfen konnte. Kurz schaute er auch zu der Frau muber, die schuld an diesem ganzen Kackorama war. Sie lrnrner noch im Schneidersitz mitten auf der Straße, die Oberschenkel und die Front ihres Mantels waren eingeschneit. Ihre Weste flatterte im Wind, ebenso die Bänder an ihrer Mütze. Sie hatte sich nicht zu ihnen umgeschaut, sondern starrte weiter unverwandt in Richtung Gosselin's Market, genau wie zuvor, als sie über die Hügelkuppe gekommen waren und sie entdeckt hatten. Eine schlangenlinienförmige Reifenspur verlief im Schnee nur knapp dreißig Zentimeter an ihrem linken Knie vorbei, und er hatte keine Ahnung, wirklich nicht die mindeste Ahnung, wie es ihm gelungen war, ihr auszuweichen.
»Henry! Hilf mir, Henry!«
Er eilte weiter und schlitterte durch den Neuschnee zur Beifahrerseite. Petes Tür klemmte, aber als sich Henry hinkniete und mit beiden Händen daran zerrte, ließ sie sich halb öffnen. Er packte Pete an der Schulter und zog. Nichts.
»Mach den Gurt los, Pete.«
Pete nestelte herum, fand ihn aber nicht, obwohl er ihn direkt vor der Nase hatte. Ganz methodisch und ohne die mindeste Ungeduld zu verspüren (er ging davon aus, dass er unter Schock stand), löste Henry den Sicherheitsgurt. Pete stürzte aufs Dach und drehte den Kopf beiseite. Er schrie vor Erstaunen und Schmerz auf und zwängte und schob sich dann durch die halb offene Tür. Henry packte ihn unter den Armen und zog ihn. Gemeinsam purzelten sie in den Schnee, und Henry hatte ein so plötzliches und mächtiges Dejä-vu, dass es ihm fast die Sinne raubte. Hatten sie als Kinder nicht genauso gespielt? Natürlich hatten sie das. Zum Beispiel an dem Tag, als sie Duddits beigebracht hatten, Schnee-Engel zu machen. Jemand fing an zu lachen, was Henry ziemlich erschreckte. Doch dann merkte er, dass er es selber war, der lachte.
Pete setzte sich wild und finster blickend auf, den Rücken mit Schnee bedeckt. »Verdammte Scheiße, worüber lachst du? Das Schwein hätte uns fast umgebracht! Ich dreh dem Schwein den Hals um!«
»Kein Schwein, eher eine Sau«, sagte Henry. Er lachte nun noch lauter und hielt es durchaus für möglich, dass Pete nicht verstand, was er sagte - zumal bei diesem Wind -, aber das war ihm egal. Selten nur hatte er sich so herrlich gefühlt.
Pete stand so auf wie Henry, und Henry wollte eben bemerken, wie gut sich Pete doch bewegen könne für jemanden mit einem gebrochenen Bein, als Pete mit einem Schmerzensschrei wieder zu Boden sank. Henry ging zu ihm und tastete sein Bein ab, das er vor sich ausgestreckt hatte. Es schien unversehrt, aber wie wollte man das durch zwei Schichten Kleidung beurteilen?
»Es ist überhaupt nicht gebrochen«, sagte Pete, keuchte dabei aber vor Schmerz. »Das Scheißknie ist blockiert, weiter nichts, genau wie früher, als ich noch Football gespielt habe. Wo ist sie? Bist du sicher, dass es eine Frau ist?«
»Ja.«
Pete stand auf, humpelte vorn ums Auto herum und hielt sich dabei das Knie. Der noch intakte Scheinwerfer strahlte weiter tapfer in den Schnee. »Dann will ich mal hoffen, dass sie gelähmt oder blind ist«, sagte er zu Henry. »Denn wenn nicht, tret ich ihr bis zu Gosselin's zurück in den Arsch.«
Henry brach wieder in Gelächter aus. Er hatte Pete vor Augen, wie er humpelte ... und dann zutrat. Wie ein invalider Tanzbär. »Peter, tu ihr nicht weh!«, rief er, und jede Ernsthaftigkeit, die er vielleicht aufgebracht hätte, wurde dadurch zunichte gemacht, dass er nur zwischen heftigen Lachanfällen sprechen konnte.