»Nur, wenn sie mir frech kommt«, sagte Pete. Die Worte, die der Wind zu Henry weitertrug, klangen nach gekränktem Tantchen, und das brachte ihn nur noch mehr zum Lachen. Er zerrte sich die Jeans und die lange Unterhose herunter, stand dann in seiner Jockeys da und schaute nach, wie schwer ihn der Blinkerhebel verwundet hatte.
Es war eine flache, gut sechs Zentimeter lange Wunde innen am Oberschenkel. Sie hatte reichlich geblutet und nässte immer noch, aber Henry glaubte nicht, dass es schlimm war.
»Was zum Teufel haben Sie sich denn dabei gedacht?«, zeterte Pete auf der anderen Seite des umgestürzten Scout los, dessen Scheibenwischer immer noch Wick-u>umm, Wick-wumm machten. Und obwohl Petes Tirade mit Schimpfwörtern (größtenteils Biberismen) gespickt war, hörte er sich für Henry an wie eine gekränkte ältliche Lehrerin, und das brachte ihn wieder zum Lachen, während er sich die Hosen hochzog.
»Verdammte Scheiße noch mal! Wieso sitzen Sie mitten in einem Schneesturm mitten auf der Straße? Sind Sie besoffen? Zugedröhnt? Was für eine bescheuerte Dumpfbacke sind Sie denn? Hey! Antworten Sie mir! Sie hätten mich und meinen Freund fast umgebracht, da können Sie doch wohl wenigstens ... auu, VERFICKT UND ZUGENÄHT!«
Henry kam eben noch rechtzeitig hinter dem Autowrack hervor, um Pete neben Miss Buddha zu Boden stürzen zu sehen. Sein Knie war wohl wieder blockiert. Sie sah ihn nicht mal an. Die orangefarbenen Bänder an ihrer Mütze flatterten hinter ihr im Wind. Das Gesicht hielt sie dem Sturm entgegen, die weit geöffneten Augen zwinkerten nicht, während Schneeflocken hineinwirbelten und auf den warmen Linsen schmolzen, und Henry spürte, trotz allem, seine berufliche Neugierde erwachen. Auf wen waren sie denn hier gestoßen?
»Auu, Scheißdreck, verdammte Scheiße, tut das WEH!« »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Henry, und das brachte ihn wieder zum Lachen. Was für eine bescheuerte Frage.
»Höre ich mich etwa so an, Seelenklempner?«, giftete Pete zurück, doch als sich Henry über ihn beugte, machte er eine
abwehrende Handbewegung. »Nee, schon gut, es geht schon wieder. Schau mal lieber nach Prinzessin Arschgeige. Die sitzt da einfach nur.«
Henry kniete sich vor der Frau hin und zuckte bei dem Schmerz zusammen - seine Beine, ja, aber seine Schulter tat auch weh, wo er mit ihr aufs Dach geknallt war, und er bekam einen steifen Hals -, kicherte aber immer noch.
Sie war nun wirklich keine junge Maid, der es beizuspringen galt. Sie war mindestens vierzig und kräftig gebaut. Zwar trug sie einen dicken Mantel und wer weiß wie viele Kleiderschichten, doch zeichneten sich darunter unverkennbar Euter von einem Kaliber ab, für das die Möglichkeit der Brustverkleinerungsoperation ursprünglich geschaffen worden war. Dem Haar, das zwischen und unter den Ohrenklappen ihrer Mütze hervorragte, war keinerlei Frisur anzusehen. Wie Pete und Henry trug sie Jeans, aber ihre Oberschenkel waren doppelt so breit wie Henrys. Das erste Wort, das ihm einfiel, war Landfrau — diese Frauen, die man sah, wie sie auf dem mit Spielzeug übersäten Hof neben dem extrabreiten Wohnwagen ihre Wäsche aufhängten, während Garth oder Shania aus einem Radio plärrten, das an einem offenen Fenster stand ... oder wie sie bei Gosselin's einkauften. Die orangefarbene Warnkleidung mochte darauf hindeuten, dass sie auf der Jagd war, aber wo war dann ihr Gewehr? Bereits unter dem Schnee begraben? Ihre weit geöffneten Augen waren dunkelblau und schauten völlig ausdruckslos. Henry schaute sich nach ihren Fußspuren um, konnte aber keine entdecken. Zweifellos hatte der Wind sie verweht; aber unheimlich war es schon; als wäre sie vom Himmel gefallen.
Henry zog sich die Handschuhe aus und schnipste vor ihren glotzenden Augen mit den Fingern. Sie blinzelte. Das war nicht viel, aber mehr, als er erwartet hatte, angesichts dessen, dass ein mehrere Tonnen schweres Fahrzeug sie eben rast um Haaresbreite verfehlt hatte, ohne dass sie auch nur mit der Wimper gezuckt hätte.
»Hey!«, schrie er ihr ins Gesicht. »Hey! Aufgewacht! Aufgewacht! «
Er schnipste wieder mit den Fingern und hatte kaum noch ein Gefühl darin - seit wann war es denn plötzlich so kalt? Na, jetzt sind wir aber in der Bredouille, dachte er.
Die Frau rülpste. Der Rülpser war erstaunlich laut, auch mit dem tosenden Wind in den Bäumen, und ehe der Sturm den Geruch vertrieb, bekam Henry noch etwas mit, das sowohl bitter als auch durchdringend roch - wie medizinischer Alkohol. Die Frau regte sich, verzog das Gesicht und ließ dann einen Furz - einen lang gedehnten, knatternden Furz, der sich anhörte, als würde ein Tuch zerreißen. Vielleicht, dachte Henry, begrüßen sich die Einheimischen hier ja so. Bei dem Gedanken musste er wieder lachen.
»Ach du grüne Neune«, sagte Pete, nun fast direkt neben seinem Ohr. »Das hat sich ja angehört, als wäre ihr Hosenboden geplatzt. Was haben Sie denn getrunken, Lady? Pres-tone?« Und dann zu Henry: »Die hat doch irgendwas getrunken, Herrgott, und ich fress ’n Besen, wenn das nicht Frostschutzmittel war.«
Henry roch es auch.
Die Frau bewegte plötzlich die Augen und schaute Henry ins Gesicht. Er war entsetzt über den Schmerz, den er ihrem Blick ansah. »Wo ist Rick?«, fragte sie. »Ich muss Rick finden - er ist als Einziger noch übrig.« Sie verzog das Gesicht, und als sie die Lippen zurückzog, sah Henry, dass die Hälfte ihrer Zähne fehlten. Die verbliebenen sahen aus wie die Latten eines verfallenen Zauns. Sie rülpste wieder, und der Geruch war so übermächtig, dass ihm davon die Augen tränten.
»Ach du Kacke!«, schrie Pete förmlich. »Was hat sie denn?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Henry. Er wusste nur mit Sicherheit, dass die Frau nun wieder ausdruckslos schaute und sie hier ziemlich in der Patsche steckten. Wäre er allein gewesen, dann hätte er sich vielleicht zu der Frau gesetzt und den Arm um sie gelegt - eine weit interessantere und originellere Antwort auf die letzte Frage als die Hemingway-Lö-sung. Aber er musste ja auch noch an Pete denken - und Pete hatte noch nicht mal seinen ersten Alkohol-Entzug durchgemacht, der ihm zweifellos bevorstand. Und außerdem war er neugierig.
Pete saß im Schnee, massierte sich wieder das Knie, schaute Flenry an und wartete darauf, dass der etwas unternahm, denn Flenry war nur allzu oft der Ideengeber ihrer Viererbande gewesen. Sie hatten zwar keinen Anführer gehabt, aber Flenry war so etwas Ähnliches gewesen. Das war auch schon damals auf der Junior High School so. Die Frau schaute währenddessen nur wieder hinaus in den Schnee.
Ganz ruhig, dachte Flenry. Tief durchatmen und ganz ruhig sein. Er atmete tief ein, hielt die Luft an und atmete dann wieder aus. Schon besser. Schon viel besser. Also gut, was war mit dieser Frau los? Mal davon abgesehen, woher sie kam, was sie hier machte und warum ihr Atem nach verdünntem Frostschutzmittel stank, wenn sie rülpste. Was war im Moment mit ihr los?
Sie stand unter Schock, das war offensichtlich. Ein so tiefer Schock, dass er einer Katatonie ähnelte. Man bedenke nur, dass sie sich kaum bewegt hatte, als der Scout um Haaresbreite an ihr vorbeigeschleudert war. Und doch hatte sie sich noch nicht so tief in sich selbst zurückgezogen, dass man sie nur mit einem injizierten Aufputschmittel hätte wiederbeleben können; sie hatte auf sein Fingerschnipsen reagiert und etwas gesagt. Hatte sich nach einem gewissen Rick erkundigt.
»Henry -«
»Sei mal kurz still.«
Er zog sich wieder die Handschuhe aus und klatschte vor ihrem Gesicht schnell in die Hände. Es war sehr leise, verglichen mit dem steten Tosen des Winds in den Bäumen, aber sie blinzelte wieder.
»Stehen Sie auf!«
Henry nahm sie bei den behandschuhten Händen, und es ermutigte ihn, dass sie sich reflexartig um seine schlössen. Er beugte sich vor, kam dabei ihrem Gesicht nahe und roch wieder diesen ätherartigen Gestank. Wer so roch, konnte nicht gesund sein.