»Eine halbe Meile. Vielleicht auch eine Dreiviertelmeile.«
»Und du bist dir sicher?«
»Ja.«
»Kannst du mit deinem Knie so weit gehen?«
»Ich denke schon. Aber sie?«
»Sie hat keine Wahl«, sagte Henry. Er legte der Frau seine Hände auf die Schultern, drehte ihr mit großen Augen glotzendes Gesicht zu sich und näherte sich ihr, bis sich ihre Nasen fast berührten. Ihr Atem stank abscheulich - nach Frostschutzmittel und noch etwas Öligem, Organischem dazu -, aber er hielt dem tapfer stand.
»Wir müssen gehen!«, sagte er in lautem Befehlston zu ihr. »Gehen Sie mit mir! Bei drei! Eins, zwei, drei!«
Er nahm sie an die Hand und führte sie um den Scout herum auf die Straße. Sie sträubte sich kurz, folgte ihm dann aber lammfromm und schien den Wind gar nicht zu bemerken, der ihnen entgegenschlug. So wanderten sie etwa fünf Minuten lang; Henry hielt die behandschuhte rechte Hand der Frau in seiner linken, und dann blieb Pete plötzlich stehen.
»Warte«, sagte er. »Das verdammte Knie fängt wieder an zu blockieren.«
Während er sich bückte und es massierte, sah Henry zum Himmel hoch. Es waren keine Lichter mehr zu sehen. »Alles in Ordnung? Schaffst du's?«
»Ich schaffe das«, sagte Pete. »Komm, gehn wir.«
6
Sie schafften es um die Kurve und halb den Hügel hinauf, und dann fiel Pete zu Boden, stöhnte und fluchte und hielt sich das Knie. Als er sah, wie Henry ihn anschaute, gab er einen seltsamen Laut von sich, halb Lachen und halb Knurren. »Mach dir um mich keine Sorgen«, sagte er. »Der kleine Petie schafft das schon.«
»Bestimmt?«
»Jau.« Und zu Henrys Befremden (nein, auch Belustigung, dieser schwarze Humor schien ihn gar nicht mehr loszulassen), ballte Pete die Fäuste und schlug auf sein Knie ein.
»Pete -«
»Hör auf, du Scheißteil, hör auf!«, schrie Pete und ignorierte ihn völlig. Und die ganze Zeit über stand die Frau mit hängenden Schultern da, den Wind jetzt im Rücken, die orangefarbenen Mützenbänder flatterten ihr ins Gesicht, und sie war so still wie eine Maschine, die man abgeschaltet hatte. »Pete?«
»Es geht schon wieder«, sagte Pete. Er schaute mit erschöpftem, aber auch nicht unamüsiertem Blick zu Henry hoch. »Ist das jetzt das absolute Kackorama, oder was?« »Allerdings.«
»Ich glaube nicht, dass ich ganz bis nach Derry zurück wandern könnte, aber bis zu diesem Schuppen schaffe ich es.« Er streckte eine Hand aus. »Hilf mir hoch, Chief.«
Henry nahm die Hand seines alten Freunds und zog. Pete stand steifbeinig auf, als würde er sich von einer Verbeugung erheben, stand dann für einen Moment da und sagte schließlich: »Gehn wir. Ich freue mich schon darauf, aus diesem Wind herauszukommen.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Wir hätten ein paar Bier mitnehmen sollen.«
Sie erreichten die Hügelkuppe, und dahinter war der Wind nicht mehr so schlimm. Als sie dann am Fuß des Hügels auf das gerade Straßenstück kamen, hatte Henry sogar zu hoffen gewagt, wenigstens hier würde es keine Schwierigkeiten geben. Dann, mitten auf dem geraden Stück, als sie vor sich eben einen schemenhaften Umriss erkennen konnten, bei dem es sich um den Holzfällerschuppen handeln musste, brach die Frau zusammen - erst ging sie in die Knie, dann schlug sie lang hin. Für einen Moment lag sie so da, den Kopf beiseite gedreht, und nur die Atemfahne aus ihrem offen stehenden Mund deutete darauf hin, dass sie noch am Eeben war (und wie viel einfacher wäre alles, wenn sie es nicht wäre, dachte Henry). Dann drehte sie sich auf die Seite und gab wieder einen lang gedehnten, wiehernden Rülpser von sich.
»Mann, du nervige Fotze«, sagte Pete, und es klang eher erschöpft als verärgert. Er schaute Henry an. »Was jetzt?«
Henry kniete sich neben sie, brüllte sie an, sie solle aufstehen, schnipste mit den Fingern, klatschte in die Hände und zählte mehrfach bis drei. Nichts wirkte.
»Bleib hier bei ihr. Vielleicht finde ich was, worauf wir sie ziehen können.«
»Na viel Glück.«
»Hast du ’ne bessere Idee?«
Pete setzte sich in den Schnee, verzog das Gesicht und streckte sein verwundetes Bein aus. »Nein, Sir«, sagte er. »Habe ich nicht. Mir sind gerade die Ideen ausgegangen.«
Henry brauchte fünf Minuten bis zu dem Schuppen. Sein Bein wurde an der Stelle, an der sich der Blinkerhebel hineingebohrt hatte, allmählich steif, aber das würde schon wieder, dachte er. Wenn er Pete und die Frau zu dem Schuppen bringen konnte und das Arctic Cat daheim ansprang, konnte immer noch alles gut werden. Und es war doch wirklich auch interessant, das war nicht zu leugnen. Diese Lichter am Himmel
Das Wellblechdach des Schuppens war genau richtig eingestürzt: vorn, zur Straße hin, stand er offen, aber die Rückseite war fast vollständig winddicht. Und aus der dünnen Schneeschicht, die hineingeweht war, ragte das Ende einer schmutzig grauen Plane, an der Sägespäne und Holzsplitter klebten.
»Volltreffer«, sagte Henry und packte sie. Zunächst hing sie am Boden fest, doch als er mit aller Kraft daran zog, löste sich die Plane mit lautem Ratsch, einem Geräusch, bei dem er an die furzende Frau denken musste.
Die Plane hinter sich herziehend, trottete er zurück zu der stelle, an der Pete, das Bein immer noch steif ausgestreckt, im Schnee neben der auf dem Bauch liegenden Frau saß.
Es war viel einfacher, als Henry zu hoffen gewagt hatte. Ja, sobald sie sie einmal auf der Plane hatten, war es ein Klacks. Sie war zwar kräftig gebaut, glitt aber wie auf Schmierseife über den Schnee. Henry war froh, dass es nicht fünf Grad wärmer war; bei klebrigem Schnee hätte das alles schon ganz anders ausgesehen. Und natürlich half es auch, dass sie auf einem geraden Straßenstück waren.
Der Schnee lag nun knöcheltief und fiel noch dichter als zuvor, aber die Schneeflocken waren jetzt größer. Es hört auf, hatten sie als Kinder enttäuscht gesagt, wenn sie solche Flocken gesehen hatten.
»Hey, Henry!« Pete hörte sich atemlos an, aber das war nicht weiter schlimm; der Schuppen war gleich voraus.
»Was?«
»Ich hab in letzter Zeit oft an Duddits gedacht. Ist das nicht seltsam?«
»Kein Prall«, sagte Henry spontan.
»Stimmt«, sagte Pete und lachte leicht nervös auf. »Kein Prall, kein Spiel. Aber das ist doch seltsam, oder?«
»Wenn das seltsam ist«, sagte Henry, »dann sind wir beide seltsam.«
»Wie meinst du das?«
»Ich habe auch an Duddits gedacht, und zwar schon seit einer ganzen Weile. Mindestens seit vergangenem März. Jonesy und ich wollten ihn besuchen -«
»Tatsächlich?«
»Ja. Dann hatte Jonesy den Unfall -«
»Der dumme alte Sack hätte gar nicht mehr fahren dürfen«, sagte Pete mit grimmiger Miene. »Jonesy hat Glück, dass er noch lebt.«
»Da hast du Recht«, sagte Henry. »Sein Herz ist im Krankenwagen stehen geblieben. Die Sanitäter mussten ihn mit Elektroschocks zurückholen.«
Pete blieb mit großen Augen stehen. »Im Ernst? So schlimm war es? So knapp?«
Henry wurde bewusst, dass er indiskret gewesen war. »Ja, aber das solltest du für dich behalten. Carla hat es mir erzählt, und ich glaube, Jonesy weiß das gar nicht. Ich hatte jedenfalls nie ...« Er machte eine wegwerfende Handbewegung, und Pete nickte, als verstünde er vollkommen. Ich hatte jedenfalls nie den Eindruck, dass er das weiß, hatte Henry sagen wollen.
»Ich behält's für mich«, sagte Pete.
»Das wäre wohl das Beste.«
»Und ihr habt Duds dann nicht besucht.«
Henry schüttelte den Kopf. »In der ganzen Aufregung um Jonesy habe ich nicht mehr daran gedacht. Dann war es Sommer, und du weißt ja, wie das ist...«
Pete nickte.
»Aber weißt du was? Ich habe gerade vorhin an ihn gedacht. Bei Gosselin's.«
»Hat dich der Junge mit dem Beavis-and-Butthead-T-Shirt drauf gebracht?«, fragte Pete. Er sprach in weißen Dampfwölkchen.