Henry nickte. »Der Junge« hätte zwölf oder auch fünfundzwanzig sein können, bei Menschen mit Downsyndrom war das schwer zu sagen. Er war rothaarig gewesen und in dem schummrig beleuchteten kleinen Supermarkt durch den Mittelgang gewandert, neben einem Mann, der einfach sein Vater sein musste - die gleiche grün-schwarz karierte Jagdjacke und vor allem das gleiche karottenfarbene Haar, bei dem Mann schon so licht, dass die Kopfhaut durchschimmerte -; und der hatte ihnen einen Blick zugeworfen, der besagte: Ein Spruch über meinen Sohn, und ihr kriegt Ärger, und natürlich hatte keiner von ihnen etwas gesagt; sie hatten dle gut zwanzig Meilen von ihrer Hütte dorthin zurückgeegt' um sich Bier, Brot und Hotdogs zu holen, keinen Ärger, und außerdem hatten sie früher Duddits gekannt, kannten ihn in gewisser Weise immer noch - schickten ihm jedenfalls Weihnachts- und Geburtstagskarten -, und Duddits war einmal, auf seine ganz eigene Art, einer von ihnen gewesen. Henry konnte Pete schlecht anvertrauen, dass er in seltsamen Momenten an Duds gedacht hatte, seitdem ihm vor gut sechzehn Monaten aufgegangen war, dass er sich umbringen wollte und dass alles, was er tat, dieses Ereignis entweder hinauszögerte oder vorbereitete. Einige Male hatte er sogar von Duddits geträumt und davon, wie der Biber gesagt hatte: Lass mich mal machen, Mann, und wie Duddit erwidert hatte: Was mahn?
»Es schadet ja nicht, an Duddits zu denken, Pete«, sagte er, als er den improvisierten Schlitten mit der Frau drauf in den Unterstand zerrte. Jetzt war er selbst auch etwas aus der Puste. »Über Duddits haben wir uns definiert. Die Zeit mit ihm war unsere beste.«
»Meinst du?«
»Ja.« Henry hockte sich hin, um Luft zu schnappen, ehe er sich der nächsten Aufgabe widmete. Er sah auf seine Armbanduhr. Fast schon zwölf. Mittlerweile würden Jonesy und Biber nicht mehr glauben, der Schneefall hätte sie aufgehalten; sicherlich dachten sie mittlerweile, dass etwas nicht stimmte. Vielleicht würde einer von ihnen das Schneemobil anwerfen (wenn es funktioniert, musste Henry immer wieder denken, wenn das Scheißding funktioniert) und nach ihnen suchen. Das würde alles etwas vereinfachen.
Er sah sich die Frau an, die auf der Plane lag. Das Haar war ihr über ein Auge gerutscht und verbarg es nun; mit dem anderen sah sie Henry mit eisiger Gleichgültigkeit an — und durch ihn hindurch.
Henry war der Ansicht, dass alle Kinder in früher Jugend mit Situationen konfrontiert würden, in denen sie sich selbst definieren mussten, und dass Kinder in Gruppen darauf normalerweise entschiedener reagierten als Kinder, die alleine waren. Oft verhielten sie sich böse und reagierten mit Grausamkeit auf Leid. Henry und seine Freunde hatten sich, warum auch immer, gut verhalten. Das bedeutete letztendlich nicht viel, aber es konnte nicht schaden - und schon gar nicht, wenn einem so düster zu Mute war -, sich daran zu erinnern, dass man sich einmal in einer eigentlich aussichtslosen Situation anständig verhalten hatte.
Er erklärte Pete, was sie jetzt zu tun hatten, und stand dann auf, um damit loszulegen. Er wollte, dass sie alle sicher in der Hütte waren, ehe die Sonne unterging. Ein sauberer, gut beleuchteter Raum: das war natürlich von Papa, und das brachte ihn wieder auf die Hemingway-Lösung.
»Gut«, sagte Pete, klang aber ängstlich dabei. »Ich hoffe bloß, sie stirbt mir nicht. Und diese Lichter kommen nicht wieder.« Er legte den Kopf in den Nacken und schaute zum Himmel, aber dort waren nur dunkle, niedrig hängende Wolken zu sehen. »Was war das wohl? Eine Art Gewitter?«
»Wahrscheinlich«, sagte Henry. »Sammle mal die Stückchen ein. Dazu musst du nicht mal aufstehen.«
»Als Anmachholz?«
»Genau«, sagte Henry, stieg dann über die Frau auf der Plane und ging zum Waldrand, wo im Schnee jede Menge Kleinholz herumlag. Knapp neun Meilen Fußmarsch hatte er jetzt vor sich. Aber erst würden sie noch ein Feuer machen. Ein schönes großes Feuer.
KAPITEL 4
McCarthy geht aufs Klo
Jonesy und Biber saßen in der Küche und spielten Cribbage, das sie einfach nur »das Spiel« nannten. So hatte es Lamar, Bibers Vater, immer genannt, so als gäbe es nur dieses eine Spiel. Und für Lamar Clarendon, dessen ganzes Leben sich um sein Bauunternehmen gedreht hatte, hatte es wahrscheinlich auch nur dieses eine Spiel gegeben, weil Cribbage in den Holzfällercamps, an Bahnhaltestellen und, natürlich, in Bauwagen am häufigsten gespielt wurde. Ein Brett mit hundertzwanzig Löchern, vier Stiften aus Holz oder Metall und ein altes, labbriges Kartenspiel - wenn man das hatte, konnte es losgehen. Das Spiel wurde meistens gespielt, während man auf etwas wartete - dass es aufhörte zu regnen, dass eine Frachtlieferung eintraf oder dass die Freunde vom Einkäufen wiederkamen und man besprechen konnte, was man mit dem komischen Kerl machen sollte, der da nun hinter einer geschlossenen Schlafzimmertür lag.
Nur dass wir, dachte Jonesy, im Grunde eigentlich auf Henry warten. Pete ist nur dabei. Henry wird wissen, was zu tun ist, da hat der Eiber Recht. Henry wird es wissen.
Aber Henry und Pete waren spät dran. Es war noch zu früh, um zu vermuten, dass ihnen etwas zugestoßen sei, es hätte auch einfach nur der Schneefall sein können, der sie aufgehalten hatte, aber Jonesy fragte sich allmählich, ob das alles war, und vermutlich fragte sich der Biber das auch. Sie hatten noch nicht darüber gesprochen - es war noch vor zwölf, und vielleicht war ja auch alles in Ordnung -, aber der Gedanke stand unausgesprochen im Raum.
Jonesy konzentrierte sich auf das Spielfeld und die Karten und schaute dann doch immer mal wieder zu der verschlossenen Schlafzimmertür hinüber, hinter der McCarthy lag und wahrscheinlich schlief, und, o Mann, seine Gesichtsfarbe hatte gar nicht gut ausgesehen. Zwei- oder dreimal ertappte er auch den Biber dabei, wie er kurz hinüberschaute.
Jonesy mischte das alte Blatt Marke Bicycle, teilte aus, gab sich selbst und legte dann das Crib beiseite, nachdem ihm Biber zwei Karten zugeschoben hatte. Biber hob ab, und damit waren die Vorbereitungen abgeschlossen; jetzt wurde es Zeit zu punkten. Man kann punkten und trotzdem verlieren, hatte Lamar zu ihnen gesagt, stets eine Chesterfield im Mundwinkel und die Schirmmütze mit dem eigenen Firmenlogo immer übers linke Auge gezogen, wie ein Mann, der ein Geheimnis kennt und es nur verraten wird, wenn der Preis stimmt - Lamar Clarendon, dieser nie zu Scherzen aufgelegte Malocher-Daddy, der mit achtundvierzig an einem Herzinfarkt gestorben war —, aber wer punktet, vediert nicht zu Null.
Kein Spiel, dachte Jonesy jetzt. Kein Prall, kein Spiel. Sofort gefolgt von dieser schrecklichen, zittrigen Stimme damals im Krankenhaus: Hört auf, ich hält's nicht mehr aus, gebt mir 'ne Spritze, wo ist Marcy? Und, o Mann, warum war das Leben so schwer? Wieso lauerten überall Knüppel auf deine Finger, und wieso gab es so viele Stöcke, die nur daraufwarteten, einem in die Speichen geworfen zu werden? »Jonesy?«
»Hmm?«
»Alles klar?«
»Ja, wieso?«
»Du hast gerade gezittert.«
»Echt?« Klar hatte er gezittert. Er wusste es.
»Ja.«
»Vielleicht zieht's. Riechst du was?«
»Du meinst... ihn?«
»Meg Ryans Achselhöhlen meine ich jedenfalls nicht. Ja, ihn.«
»Nein«, sagte Biber. »Ein paarmal dachte ich ... aber das habe ich mir nur eingebildet. Weil diese Fürze, weißt du -«
»- so übel gestunken haben.«
»Ja. Allerdings. Und die Rülpser auch. Ich dachte echt, er würde kotzen, Mann. Dachte ich wirklich.«
Jonesy nickte. Ich habe Angst, dachte er. Ich sitze hier mit einer Scheißangst in einem Schneesturm. Ich will, dass Henry kommt, gottverdammt Wo bleibt er bloß?
»Jonesy?«
» Was? Spielen wir jetzt oder nicht?«
»Klar, aber ... meinst du, mit Henry und Pete ist alles in Ordnung?«