»Woher soll ich das wissen?«
»Hast du nicht ... so ein Gefühl? Siehst du nicht vielleicht -«
»Ich sehe nur dein Gesicht.«
Biber seufzte. »Aber meinst du, mit ihnen ist alles in Ordnung?«
»Ja, das meine ich.« Doch verstohlen blickte er zur Uhr -es war halb zwölf - und dann zu der geschlossenen Schlafzimmertür, hinter der McCarthy lag. Mitten im Zimmer drehte sich der Traumfänger langsam in einem Luftzug. »Die lassen sich einfach nur Zeit. Die kommen schon. Lass uns spielen.«
»Also gut. Acht.«
»Fünfzehn. Macht zwei.«
»Mist.« Biber steckte sich einen Zahnstocher in den Mund. »Fünfundzwanzig.«
»Dreißig.«
»Go.«
»Ass. Macht zwei.«
»Gekörnte Scheiße!« Biber lachte verzweifelt auf, als Jonesy um die Ecke in die dritte Straße einbog. »Jedes Mal, wenn du gibst, laschst du mich ab.«
»Ich lasch dich auch ab, wenn du gibst«, sagte Jonesy. »Die bittere Wahrheit. Komm schon, spiel.«
»Neun.«
»Sechzehn.«
»Und einen für die letzte Karte«, sagte der Biber, als hätte er damit einen moralischen Sieg errungen. Er stand auf. »Ich geh nach draußen pissen.«
»Wieso das? Wir haben hier ein prima Klo, falls du's noch nicht weißt.«
»Ich weiß. Ich will bloß mal sehn, ob ich meinen Namen in den Schnee pissen kann.«
Jonesy lachte. »Wirst du denn nie erwachsen?«
»Nicht solange es sich vermeiden lässt. Und sei nicht so laut. Weck den Typ nicht auf.«
Jonesy schob die Karten zusammen, fing an zu mischen, und Biber ging zur Hintertür. Er musste an eine Variante des Spiels denken, die sie als Kinder gespielt hatten. Sie nannten es das Duddits-Spiel, und meistens spielten sie es im Freizeitraum der Cavells. Es war genau wie das übliche Cribbage, nur dass sie Duddits die Stifte weiterstecken ließen. Ich habe zehn, sagte Henry dann, steck zehn weiter, Duddits. Und Duddits, der sein bescheuertes Lächeln aufgesetzt hatte, das Jonesy unweigerlich froh machte, steckte dann vier oder sechs
oder zehn oder auch vierundzwanzig Punkte. Die
Hauptregel beim Duddits-Spiel bestand darin, sich nie zu beschweren, nie zu sagen: Duddits, das ist zu viel oder Duddits, das reicht nicht. Und Mann, was hatten sie gelacht. Mr. und Mrs. Cavell hatten auch gelacht, wenn sie gerade im
Zimmer waren, und Jonesy konnte sich an das eine Mal er
innern, da waren sie fünfzehn oder sechzehn, und Duddits war natürlich so alt, wie er halt war: Duddits Cavell wurde me älter, das war so schön und so unheimlich daran, und
dieses eine Mal hatte Alfie Cavell angefangen zu weinen und hatte gesagt: Jungs, wenn ihr nur ivüsstet, was das für mich und meine Frau bedeutet, wenn ihr nur wüsstet, was das für Douglas bedeutet -
»Jonesy.« Bibers Stimme klang eigenartig hölzern. Kalte Luft kam zur offenen Küchentür herein, und Jonesy bekam Gänsehaut an den Armen.
»Mach die Tür zu, Biber. Was sind denn das für Unsitten?«
»Komm her. Das musst du diransehen.«
Jonesy stand auf und ging zur Tür. Er machte den Mund auf, um etwas zu sagen, und schloss ihn dann wieder. Auf dem Hof waren genug Tiere, um damit einen Streichelzoo zu eröffnen. Größtenteils Hirsche und Rehe, ein paar Dutzend Böcke und Kühe und Ricken. Doch mit ihnen kamen da Waschbären, watschelnde Waldmurmeltiere und ein Trupp Eichhörnchen, die sich anscheinend mühelos auf dem Schnee fortbewegten. Hinter dem Schuppen, in dem das Schneemobil und diverse Werkzeuge und Ersatzteile aufbewahrt wurden, kamen drei große Hunde hervor, die Jonesy erst fälschlicherweise für Wölfe hielt. Dann entdeckte er bei einem eine alte, verschlissene Wäscheleine am Hals, und da wurde ihm klar, dass sie wahrscheinlich verwildert waren. Sie kamen den Hang der Schlucht herauf und wanderten alle nach Osten. Jonesy sah zwei große Wildkatzen, die sich zwischen zwei Hirschverbänden bewegten, und rieb sich die Augen, wie um dieses Trugbild loszuwerden. Aber die Wildkatzen waren immer noch da. Und auch die Hirsche und Rehe, die Waldmurmelhörnchen, Waschbären und Eichhörnchen. Sie gingen einfach weiter und hatten für die beiden Männer, die dort in der Tür standen, kaum einen Blick übrig; aber sie waren nicht panisch, wie Tiere etwa, die vor einem Feuer flohen. Und es roch auch nicht nach einem Brand. Die Tiere wanderten einfach nach Osten, verließen das Gebiet.
»Ach du großer Gott«, sagte Jonesy mit leiser, ehrfürchtiger Stimme.
Biber hatte zum Himmel geschaut. Jetzt warf er den Tieren noch einen flüchtigen Blick nach und sah dann wieder hinauf. »Ja. Und jetzt guck mal nach oben.«
Jonesy schaute hoch und sah ein Dutzend grelle Lichter -einige rot, andere blau-weiß - dort oben herumtanzen. Sie beleuchteten die Wolken, und mit einem Mal war ihm klar, was McCarthy gesehen haben musste, als er durch den Wald geirrt war. Sie glitten hin und her, wichen einander aus oder verschmolzen kurz miteinander und strahlten so grell, dass er nicht hinsehen konnte, ohne zu blinzeln. »Was ist das?«, fragte er.
»Keine Ahnung«, sagte Biber, ohne den Blick abzuwenden. Auf seinem blassen Gesicht zeichneten sich die Bartstoppeln mit beinahe unheimlicher Deutlichkeit ab. »Aber die Tiere mögen es nicht. Das ist es, wovor sie fliehen.«
Sie schauten dem zehn, vielleicht auch fünfzehn Minuten lang zu, und dann bemerkte Jonesy ein leises Brummen, das sich anhörte wie ein elektrischer Transformator. Jonesy fragte Biber, ob er es auch höre, und der Biber nickte nur und ließ dabei die tanzenden Lichter am Himmel, die Jonesy etwa so groß vorkamen wie Kanaldeckel, nicht aus dem Blick. Er hatte das Gefühl, dass die Tiere eher vor dem Geräusch als vor den Lichtern flohen, sagte aber nichts. Es fiel ihm plötzlich überhaupt schwer zu sprechen; eine lähmende furcht hatte ihn gepackt, etwas Fiebriges, wie eine leichte Grippe.
Schließlich wurden die Lichter schwächer, und obwohl Jonesy keines davon hatte verlöschen sehen, waren es doch anscheinend nicht mehr so viele. Es waren auch weniger Tiere zu sehen, und das eindringliche Brummen verklang allmählich.
Biber zuckte zusammen, wie aus dem Tiefschlaf gerissen. »Meine Kamera«, sagte er. »Ich muss die knipsen, ehe die weg sind.«
»Ich glaube nicht, dass du -«
»Ich muss es versuchen!«, schrie Biber förmlich. Dann, leiser: »Ich muss es versuchen. Wenigstens ein paar Hirsche und so, bevor sie ...«Er drehte sich um, lief durch die Küche und versuchte sich wahrscheinlich zu erinnern, unter welchem Schmutzwäschehaufen seine alte, ramponierte Kamera lag, und blieb dann abrupt stehen. Mit ausdrucksloser und gar nicht biberlicher Stimme sagte er: »Oh, Jonesy. Ich glaube, wir haben ein Problem.«
Jonesy sah noch ein letztes Mal zu den verbliebenen Lichtern hoch, die immer matter (und auch kleiner) wurden, und drehte sich dann um. Biber stand vor der Spüle und schaute über den Küchentresen in den Hauptraum.
»Was? Was ist denn?« Diese meckernde, zänkische, leicht bebende Stimme ... war das wirklich seine?
Biber zeigte mit dem Finger. Die Tür des Schlafzimmers, in dem sie Rick McCarthy untergebracht hatten - Jonesys Zimmer -, stand offen. Die Tür zum Badezimmer, die sie offen gelassen hatten, damit sich McCarthy auf keinen Fall verlief, wenn er mal musste, war jetzt geschlossen.
Biber drehte sein finsteres, bartstoppeliges Gesicht zu Jonesy um. »Riechst du das?«
Jonesy roch es, trotz der kalten, frischen Luft, die zur offen stehenden Küchentür hereinkam. Äther oder Äthylalkohol, ja, danach roch es immer noch, aber jetzt auch noch nach etwas anderem. Ganz bestimmt nach Fäkalien. Vielleicht auch nach Blut. Und nach noch etwas anderem, etwas wie Grubengas, das eine Million Jahre lang eingesperrt gewesen war und nun endlich hatte entweichen können. Mit anderen Worten: Es waren nicht die Furzgerüche, über die Kinder im Zeltlager kichern. Es war stärker und weit schlimmer. Man verglich es nur mit Furzgerüchen, weil das noch am nahe liegendsten war. Im Grunde, dachte Jonesy, roch es wie etwas Verseuchtes, das unter Qualen starb.