»Ja.« Jonesy vermutete, dass die Leute im Hubschrauber den rätselhaften Lichtern am Himmel nachjagten oder herauszufinden versuchten, was die Tiere da vorhatten, aber an diese Dinge wollte er nicht denken, das war ihm vollkommen egal. Ihm ging es jetzt einzig und allein darum, Rick McCarthy vom Donnerbalken herunter, in fremde Hände und in ein Krankenhaus in Machias oder Derry zu bekommen. »Geh nach draußen, und wink ihnen zu.«
»Und was ist, wenn -«
WUPP! WUPP! WUPP! Und jenseits der Tür erklangen wieder diese reißenden, feuchten Geräusche, gefolgt von einem weiteren Schrei McCarthys.
»Geh nach draußen!«, brüllte Jonesy. »Hol die runter! Ist mir ^"eißegal, ob du dazu die Hose runterlassen und Lambada tanzen musst, Hauptsache, du sorgst dafür, dass die landen!»
»Na gut -« Biber wandte sich zum Gehen, zuckte dann zusammen und schrie.
Viele Dinge, die Jonesy recht erfolgreich verdrängt hatte, kamen plötzlich wieder zum Vorschein und tollten ihm anzüglich grinsend durchs Bewusstsein. Als er herumwirbelte, sah er aber lediglich ein Reh in der Küche stehen, dessen Kopf über den Küchentresen ragte und das sie mit sanftmütigen braunen Augen anschaute. Jonesy atmete tief durch und musste sich kurz an die Wand lehnen.
»Friss Rotz und kotz«, hauchte Biber. Dann ging er auf das Reh zu und klatschte dabei in die Hände. »Mach die Biege! Weißt du denn nicht, was für eine Jahreszeit es ist? Raus! Sieh zu, dass du Land gewinnst! Mach dich vom Acker!«
Das Reh blieb noch für einen Moment dort stehen und machte große Augen, ein erschrockener Gesichtsausdruck, der fast menschlich wirkte. Dann wirbelte es herum und streifte mit dem Kopf die Töpfe, Schöpfkellen und Zangen, die über dem Herd hingen. Sie schepperten aneinander, und einige fielen mit großem Getöse herunter. Dann war es, mit einem knappen Zucken des weißen Schwänzchens, zur Tür hinaus.
Biber ging hinterher und hatte noch Zeit, kurz mit bitterem Blick den Kötelhaufen auf dem Linoleum zu betrachten.
Vom großen Auszug der Tiere waren nur noch Nachzügler übrig. Das Reh, das Biber aus der Küche gescheucht hatte, sprang über einen humpelnden Fuchs, der offenbar eine Pfote in einer Falle verloren hatte, und verschwand dann im Wald. Dann tauchte aus den niedrig hängenden Wolken gleich hinterm Schneemobilschuppen ein Hubschrauber von den Ausmaßen eines Omnibus' auf. Er war braun, und seitlich drauf stand mit weißen Buchstaben AN G.
Ang?, grübelte Biber. Was zum Henker ist Ang? Dann fiel es ihm ein: die Air National Guard, die Luftwaffe der Nationalgarde, wahrscheinlich aus Bangor.
Der Hubschrauber sank mit der Nase voran. Biber trat auf den Hof und winkte mit erhobenen Händen. »Hey!«, schrie er. »Hey, wir brauchen Hilfe! Wir brauchen Hilfe!«
Der Hubschrauber sank weiter, bis er nur noch fünfundzwanzig Meter über dem Boden stand, tief genug, um den Neuschnee in einem Zyklon aufsteigen zu lassen. Dann flog er auf Biber zu und brachte dabei den Schneezyklon mit.
»Hey! Wir haben hier einen Verletzten! Einen Verletzten!« Jetzt hüpfte er auf und ab wie diese bescheuerten Bootscoo-ters, die man bei diesem Countrysender aus Nashville immer sah, und kam sich dabei wie ein Vollidiot vor, machte es aber trotzdem. Der Hubschrauber kam im Tiefflug auf ihn zu, sank aber nicht weiter und machte keine Anstalten zu landen. Da kam er plötzlich auf eine entsetzliche Idee. Biber wusste nicht, ob die Typen im Hubschrauber ihm das suggerierten, oder ob es nur Paranoia war. Er wusste bloß, dass er sich plötzlich wie eine Schießbudenfigur vorkam: Triff den Biber, und du gewinnst einen Radiowecker.
Die Seitentür des Hubschraubers wurde geöffnet. Ein Mann, der ein Megafon in der Hand hielt und den dicksten Parka trug, den Biber je gesehen hatte, beugte sich heraus. Der Parka und das Megafon störten den Biber nicht. Ihn störte die Sauerstoffmaske, die der Typ über Mund und Nase hatte. Er hatte noch nie gehört, dass Flieger auf einer Hohe von fünfundzwanzig Metern Sauerstoffmasken tragen mussten. Es sei denn, mit der Luft, die sie atmeten, stimmte etwas nicht.
Der Mann im Parka sprach in das Megafon, und seine Worte waren trotz des Wupp-wupp-wupp der Rotoren klar und deutlich zu verstehen, hörten sich aber trotzdem merkwürdig an, zum einen, dachte Biber, weil sie elektrisch verstärkt wurden, hauptsächlich aber der Maske wegen. Es war, als würde man von irgendeinem seltsamen Robotergott angesprochen.
«WIE VIELE SIND SIE?«, rief die Gottesstimme herab. »ZEIGEN SIE ES MIT DEN FINGERN.«
Biber, verwirrt und verängstigt, dachte zunächst nur an sich selbst und an Jonesy; Henry und Pete waren ja schließlich auch noch nicht vom Einkäufen zurück. Er hob zwei Finger wie zum Friedenszeichen.
»BLEIBEN SIE, WO SIE SIND!«, dröhnte der Mann aus dem Hubschrauber mit seiner Robotergottstimme. »DIESES GEBIET STEHT VORLÄUFIG UNTER QUARANTÄNE! ICH WIEDERHOLE: DIESES GE
BIET STEHT VORLÄUFIG UNTER QUARANTÄNE! SIE DÜRFEN ES NICHT VERLASSEN!«
Der Schneefall lichtete sich, aber nun frischte der Wind auf und blies Biber eine Schneefahne, die die Rotorblätter des Hubschraubers aufgewirbelt hatten, ins Gesicht. Er kniff die Augen zu und winkte mit den Armen. Er bekam eisigen Schnee in den Mund und spuckte seinen Zahnstocher aus, damit er den nicht auch verschluckte (so würde er einmal sterben, hatte seine Mutter immer geweissagt, indem er einen Zahnstocher in die Luftröhre bekam und daran erstickte), und schrie dann: »Was soll das heißen - Quarantäne? Wir haben hier einen Kranken! Sie müssen herkommen und ihn mitnehmen!«
Ihm war klar, dass sie ihn beim lauten Wupp-ivupp-wupp der Rotorblätter nicht verstehen konnten, er hatte ja schließlich kein Megafon, um seine Stimme damit zu verstärken, aber er schrie trotzdem. Und als ihm das Wort »Kranker« über die Lippen kam, fiel ihm ein, dass er dem Typ im Hubschrauber zu wenige Finger gezeigt hatte - sie waren zu dritt, nicht zu zweit. Er wollte eben drei Finger heben, da fielen ihm Henry und Pete ein. Sie waren noch nicht hier, aber falls ihnen nichts zugestoßen war, würden sie bald kommen. Wie viele waren sie also? Zwei wäre die falsche Antwort gewesen, aber war drei die richtige? Oder war es fünf? Wie oft in solchen Situationen verfiel Biber in eine geistige Starre. Wenn in der Schule so etwas passiert war, hatte neben ihm Henry oder hinter ihm Jonesy gesessen, und sie hatten ihn mit der passenden Antwort versorgt. Hier draußen aber half ihm niemand, und das laute Wupp-wupp-wupp schmetterte ihm in die Ohren, und er verschluckte sich an dem aufgewirbelten Schnee und musste husten.
»BLEIBEN SIE, WO SIE SIND! DIE LAGE HAT SICH SPÄTESTENS IN ACHTUNDVIERZIG STUNDEN GEKLÄRT! WENN SIE LEBENSMITTEL BRAUCHEN, KREUZEN SIE DIE ARME ÜBER DEM KOPF!«
»Hier sind noch mehr Leute!«, brüllte Biber zu dem Mann hoch, der sich aus dem Hubschrauber beugte. Er brüllte so laut, dass ihm rote Punkte vor den Augen tanzten. »Wir haben einen Verletzten hier! Wir ... haben ... einen VERLETZTEN!«
Der Idiot im Hubschrauber warf das Megafon hinter sich in die Kabine und zeigte Biber dann einen Kreis aus Daumen und Zeigefinger, wie um zu sagen: Okay! Verstanden! Biber hätte vor Frust platzen können. Stattdessen hob er eine ausgestreckte Hand über den Kopf - je einen Finger für sich und seine Freunde und den Daumen für McCarthy. Der Mann im Hubschrauber sah sich das an und grinste dann. Für einen wirklich wundervollen Moment dachte Biber, er hätte sich dem Maske tragenden Saftarsch verständlich gemacht. Dann erwiderte der Saftarsch, was er wohl für ein Winken hielt, und sagte etwas zu dem Piloten hinter sich, und der ANG-Helikopter hob sich wieder. Biber Clarendon stand immer noch mitten im wirbelnden Schnee und schrie: »Wir sind zu fünft, und wir brauchen Hilfe! Wir sind zu fünft, und wir brauchen verdammt noch mal HILFE!«
Der Hubschrauber verschwand wieder in den Wolken.
Jonesy hörte einiges davon - auf jeden Fall hörte er die Me-gafbn-Stimme aus dem Thunderbolt-Hubschrauber -, nahm aber nur wenig davon bewusst wahr. Er war zu besorgt um McCarthy, der ein paar kurze, atemlose Schreie ausgestoßen hatte und dann verstummt war. Der Gestank, der unter der Tür hervordrang, wurde immer intensiver.