»Also gut«, sagte er. »Wer schweigt, ist einverstanden, hat Mrs. White in der vierten Klasse immer zu uns gesagt.«
Er stand auf, hielt sich dabei das Knie und verzog das Gesicht. Fast wäre er ausgerutscht und hingefallen, kam dann schließlich doch hoch, denn er brauchte ein Bier, verdammt, brauchte dringend ein Bier, und er war der Einzige, der es ihm holen konnte. Wahrscheinlich war er Alkoholiker. Nein, das hatte mit wahrscheinlich nichts mehr zu tun. Und vermutlich musste er irgendwann mal was dagegen unternehmen, aber jetzt war er ja erst mal auf sich allein gestellt, nicht wahr? Ja, denn mit dieser Schnalle war ja nichts mehr os, von der war weiter nichts übrig als stinkendes Gas und dieser unheimliche Blick. Wenn sie Holz nachlegen musste, dann musste sie das eben alleine hinkriegen, aber das brauchte sie ja auch gar nicht, denn dann würde er längst zurück sein. Es waren nur anderthalb Meilen. Sein Bein würde ihn ganz bestimmt so weit tragen.
»Ich komme wieder«, sagte er. Er beugte sich vor und massierte sein Knie. Es war steif, aber nicht allzu schlimm. Wirklich nicht allzu schlimm. Er würde das Bier in eine Tüte packen - vielleicht noch eine Schachtel Hi-Ho-Cracker für die Schiunze, wenn er schon mal dabei war - und gleich wiederkommen. »Und Ihnen fehlt auch bestimmt nichts?«
Keine Reaktion. Nur dieser Blick.
»Wer schweigt, ist einverstanden«, sagte er noch mal, ging zurück zur Deep Cut Road und folgte dabei der Schleifspur der Plane und ihren fast schon zugeschneiten Fußspuren. Er ging mit kurzen Schritten und blieb alle zehn oder zwölf Schritte stehen, um sich auszuruhen ... und um sein Knie zu massieren. Einmal sah er sich noch zum Feuer um. Im grauen Mittagslicht sah es schon klein und schwach aus. »Das ist wirklich verrückt«, sagte er und ging weiter.
Er kam ohne Schwierigkeiten über das gerade Stück und halb den Hügel hinauf. Er fing eben an, etwas schneller zu gehen und seinem Knie ein wenig zu vertrauen, als es - ätschbätsch, Blödmann, reingelegt! - wieder blockierte und sich anfühlte wie glühendes Roheisen. Er ging zu Boden und quetschte Flüche durch zusammengebissene Zähne.
Erst als er dort fluchend im Schnee saß, bemerkte er, dass hier etwas sehr Merkwürdiges vor sich ging. Ein kapitaler Hirschbock ging links an ihm vorbei, ohne dem Menschen, vor dem er in jeder anderen Situation sofort geflohen wäre, mehr als nur einen knappen Seitenblick zuzuwerfen. Und zwischen den Beinen des Hirsches flitzte ein Eichhörnchen mit.
Pete saß da im sich lichtenden Schneefall - große Flocken segelten in Schichten herab, die wie Spitze aussahen -, das Bein ausgestreckt und mit offenem Mund. Über die Straße kamen weitere Hirsche und Rehe und auch andere Tiere, und sie gingen und hoppelten, als würden sie vor einer Katastrophe fliehen. Es kamen immer mehr aus dem Wald, ein richtiger Zug nach Osten.
»Wo wollt ihr denn hin?«, fragte er einen Hasen, der mit angelegten Ohren an ihm vorbeihoppelte. »Großer Bingo-Abend im Reservats-Casino? Oder zum Casting für einen neuen Disney-Film? Habt ihr -«
Er verstummte, und schlagartig bekam er einen trockenen Mund, der sich anfühlte, als stünde er unter Strom. Ein Schwarzbär, fettgefressen für den Winterschlaf, trottete links neben ihm durch den lichten, nachwachsenden Wald. Er hatte den Kopf gesenkt, und sein Rumpf pendelte hin und her, und obwohl er Pete nicht eines Blickes würdigte, raubte er ihm doch zum ersten Mal jegliche Illusionen darüber, welche Stellung ihm hier in den großen Wäldern des Nordens zukam. Er war nichts weiter als ein Haufen leckeres weißes Fleisch, der eher zufällig noch am Leben war. Ohne sein Gewehr war er schutzloser als das Eichhörnchen, das er zwischen den Hufen des Hirschs hatte flitzen sehen - wenn ein Bär es sah, konnte das Eichhörnchen wenigstens noch auf den nächsten Baum flüchten, hinauf bis in die lichte Krone, wohin ihm der Bär nicht folgen konnte. Dass ihn dieser Bär kaum angeguckt hatte, beruhigte Pete nicht sonderlich. Wo einer war, da waren auch noch mehr, und der nächste war vielleicht aufmerksamer.
Sobald er sicher sein konnte, dass der Bär verschwunden war, stand Pete mühsam und mit pochendem Herzen wieder • Er hatte die blöde furzende Frau zwar allein gelassen, aber welchen Schutz hätte er ihr schon groß bieten können, wenn ein Bär sie angegriffen hätte? Er musste an sein Gewehr gelangen. Und Henrys auch mitnehmen, wenn er es tragen konnte. Für die nächsten fünf Minuten, bis er auf der Hügelkuppe angelangt war, dachte Pete zuerst an Feuerkraft und dann erst an Bier. Als er jedoch vorsichtig den Hang hinabging, war er längst wieder beim Thema Bier angekommen. Pack es in die Tüte, und häng dir die Tüte über die Schulter. Und auf dem Rückweg wird nicht stehen geblieben und getrunken. Er würde sich erst eins gönnen, wenn er wieder am Lagerfeuer saß. Das würde dann sein Belohnungsbier, und es gab nichts Besseres als ein Bier zur Belohnung.
Du bist Alkoholiker. Das ist dir klar, oder? Ein beschissener Alkoholiker.
Ja, und was bedeutete das? Dass man nichts falsch machen konnte. Dass man nicht verantwortlich war, wenn man eine schon halb im Koma liegende Frau im Wald allein ließ, um Bier zu holen. Und wenn er zurück beim Unterstand war, musste er daran denken, die leeren Flaschen ganz weit in den Wald zu werfen. Aber Henry würde es trotzdem merken. Wie sie einander offenbar immer alles Mögliche anmerkten, wenn sie zusammen waren. Aber Gedankenlesen hin oder her - man musste schon ziemlich früh aufstehen, wenn man Henry Devlin hinters Licht führen wollte.
Pete dachte aber, dass ihn Henry wahrscheinlich mit dem Bier nicht nerven würde. Es sei denn, Pete beschloss, die Zeit sei reif, darüber zu sprechen, Henry vielleicht um Hilfe zu bitten. Was Pete zum passenden Zeitpunkt vielleicht auch tun würde. Es gefiel ihm überhaupt nicht, wie er sich zurzeit fühlte; und dass er die Frau allein zurückgelassen hatte, besagte wenig Schmeichelhaftes über Peter Moore. Aber Henry ... auch mit Henry stimmte in diesem November etwas nicht. Pete wusste nicht, ob Biber das mitbekam, aber Jone-sy merkte es ganz bestimmt. Henry war irgendwie ziemlich im Arsch. Vielleicht dachte er sogar -Hinter sich hörte er ein schmatzendes Grunzen. Pete schrie auf und wirbelte herum. Sein Knie blockierte wieder, diesmal noch schlimmer als zuvor, aber vor Schreck merkte er das kaum. Es war der Bär, der Bär war zurückgekommen, dieser Bär oder ein anderer -
Es war kein Bär. Es war ein Elch, und er ging an Pete vorbei und würdigte ihn kaum eines Blickes, während Pete wieder auf die Straße fiel, leise vor sich hin fluchend, sich das Bein hielt, in den dünnen Schneefall hochsah und sich selbst einen Trottel schimpfte. Einen Alkoholiker-Trottel.
Für einen beängstigenden Augenblick schien es so, als würde sich das Knie diesmal nicht wieder entspannen, als wäre etwas gerissen und als müsse er hier mitten im Exodus der Tiere liegen, bis Henry endlich auf dem Schneemobil wiederkam. Und Henry würde sagen: Was machst du denn hier? Wieso hast du sie allein gelassen? Ich hab's echt geahnt.
Doch irgendwann konnte er dann wieder aufstehen. Jetzt bekam er gerade noch ein lahmes Gehoppel hin, aber das war immer noch besser, als nur Meter neben einem noch dampfenden Haufen Elchscheiße im Schnee zu liegen. Jetzt konnte er den umgestürzten Scout sehen, dessen Reifen und Unterboden von Neuschnee bedeckt waren. Er sagte sich, dass er, hätte sich sein letzter Sturz auf der anderen Seite des Hügels ereignet, zu der Frau am Feuer umgekehrt wäre, dass es aber nun, da der Scout schon in Sicht war, besser war weiterzugehen. Dass es ihm hauptsächlich um die Waffen ginge, und die Bud-Flaschen nur eine nette Nebensache wären. Und hätte es sogar fast geglaubt. Und was den Rückweg anging ... tja, den würde er schon irgendwie schaffen. Er hatte es ja schließlich auch bis hierher geschafft, nicht wahr?
Noch gut fünfzig Meter vom Scout entfernt, hörte er ein rasch sich näherndes Wupp-wupp-wupp - das unverkennbare Geräusch eines Hubschraubers. Er schaute gespannt zum Himmel und machte sich bereit, so lange aufrecht zu stehen, dass er winken konnte - Gott, wenn irgendjemand