Henry atmete mehrfach schnell ein und aus, hyperventi-lierte seine Lunge sauber, hielt sich dann die Hand vor Mund und Nase und ging hinein. Für einen Moment stand er nur da und wartete darauf, dass sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnten. Wenn es sich vermeiden ließ, wollte er sich von nichts überraschen lassen.
Als er gut sehen konnte, ging Henry über die freie Stelle, an der das Schneemobil gestanden hatte. Auf dem Boden befand sich nur noch ein mehrschichtiges Muster aus Ölflecken, aber auf der grünen Plane, mit der das Arctic Cat abgedeckt war und die nun in der Ecke lag, wuchs jetzt ebenfalls das rötlich goldene Zeug.
Die Werkbank war ein einziges Chaos: Eine Schale mit Nägeln und eine mit Schrauben waren ausgekippt worden, sodass alles, was sorgsam sortiert war, nun durcheinander lag, ein alter Pfeifenständer, der Lamar Clarendon gehört hatte, lag zerbrochen am Boden, und sämtliche Schubladen, die in die Werkbank eingebaut waren, waren aufgerissen. Einer der beiden, Biber oder Jonesy, war wie ein Wirbelwind durch den Schuppen gerast und hatte etwas gesucht.
Das war Jonesy.
Ja. Henry würde vielleicht nie erfahren, was er gesucht hatte, aber es war Jonesy gewesen, das wusste er, und es war eindeutig sehr dringend gewesen. Henry fragte sich, ob Jonesy es gefunden hatte. Auch das würde er wahrscheinlich nie erfahren. Was er selber aber suchte, war am anderen Ende des Raums deutlich zu sehen, hing dort an einem Nagel über einem Stapel Farbdosen und Spritzpistolen.
Immer noch mit der Hand vor Mund und Nase und mit angehaltenem Atem ging Henry quer durch den Schuppen. Dort hingen mindestens vier dieser kleinen Heimwerker-Atemmasken, die man sich über Mund und Nase zog, an ausgeleierten Gummibändern. Er nahm sie alle, und als er sich umdrehte, sah er, wie sich an der Tür etwas bewegte. Er konnte sich eben noch davon abhalten, überrascht nach Luft zu schnappen, aber sein Herz machte einen Satz, und ganz plötzlich kam ihm die Luft in seiner Lunge, die ihn bis hierher gebracht hatte, zu warm und schwer vor. Aber da war nichts; das hatte er sich bloß eingebildet. Dann sah er, dass dort doch etwas war. Licht kam zur offen stehenden Tür herein, ein wenig Licht fiel auch durch das einzige schmutzige Fenster über der Werkbank, und Henry hatte sich buchstäblich vor seinem eigenen Schatten erschreckt.
Er verließ den Schuppen mit vier großen Schritten, die Atemmasken in der rechten Hand. Er hielt noch die Luft an, bis er auf der Schneemobilspur weitere vier Schritte zurückgelegt hatte, und stieß sie dann aus. Er beugte sich vor, stützte die Hände oberhalb der Knie auf die Schenkel und hatte kleine schwarze Punkte vor den Augen, die sich aber bald auflösten.
Aus dem Osten kam ferner Schusslärm. Es waren keine Gewehrschüsse; dafür waren sie zu laut und folgten zu schnell aufeinander. Das waren automatische Waffen. Henry hatte eine Vision vor Augen, so deutlich wie die Erinnerung an die Milch, die seinem Vater übers Kinn gelaufen war, und die an Barry Newman, wie er in Windeseile aus seinem Sprechzimmer geflohen war. Er sah, wie die Hirsche und Waschbären und Waldmurmeltiere und Hasen und verwilderten Hunde zu Dutzenden und Hunderten niedergemäht wurden, während sie versuchten, dem zu entfliehen, was nun eindeutig ein Seuchengebiet war; er sah, wie sich der Schnee von ihrem unschuldigen (aber möglicherweise verseuchten) Blut rot färbte. Diese Vision schmerzte ihn unerwartet heftig, drang zu einer Stelle vor, die nicht tot, sondern nur betäubt war. Es war die Stelle, die so stark auf Dud-dits' Weinen angesprochen hatte, das Weinen, das ihm fast den Kopf platzen ließ.
Henry richtete sich auf, sah frisches Blut auf der Handfläche seines linken Handschuhs und schrie mit ebenso zorniger wie amüsierter Stimme »Ach du Scheiße!« zum Himmel empor. Er hatte sich Mund und Nase zugehalten, hatte sich die Masken besorgt und wollte mindestens zwei davon tragen, wenn er die Hütte betrat, und hatte dabei ganz die Beinwunde vergessen, die er sich geholt hatte, als sich der Scout überschlagen hatte. Wenn dort im Schuppen etwas Ansteckendes gewesen war, etwas, das der Pilz absonderte, dann standen die Chancen ausgezeichnet, dass er es jetzt hatte. Aber er hatte sich eben auch nicht vorgesehen. Henry stellte sich ein Schild vor, auf dem mit großen roten Lettern stand:
SEUCHENGEBIET! BITTE NICHT ATMEN, UND HALTEN SIE SICH ALLE EVENTUELLEN KRATZER ZU !
Er grunzte vor Lachen und ging zurück zur Hütte. Tja, was soll's, er wollte ja sowieso nicht ewig leben.
Fern im Osten ratterten die Schüsse ohne Unterlass.
Wieder vor der offenen Hüttentür angelangt, tastete Henry in seiner Gesäßtasche nach einem Taschentuch, hatte aber nicht viel Hoffnung, eins zu finden ... und fand auch keins. Zwei der selten erwähnten Freuden des Lebens im Walde bestanden darin, hinzupinkeln, wo man wollte, und sich einfach so zwischen zwei Fingern in die Luft zu schnauzen. Es hatte etwas ursprünglich Befriedigendes an sich, Pisse und Rotze einfach so in die Welt zu versprenkeln ... zumindest für Männer. Wenn man es so bedachte, dann war es schon ein Wunder, dass sich Frauen überhaupt einmal in die Besten von ihnen verliebten, vom Rest mal ganz zu schweigen.
Er zog sich die Jacke, das Hemd und das Thermo-Unter-hemd aus. Die unterste Schicht bestand aus einem verblichenen T-Shirt der Boston Red Sox mit der Aufschrift garcia-parra 5 auf dem Rücken. Henry zog es aus, drehte es zu einem Verband zusammen und wickelte es sich um den blutverkrusteten Riss in seinem linken Hosenbein. Dabei dachte er wieder, dass er die Stalltür schloss, nachdem das Pferd längst gestohlen war. Doch trotzdem füllte man die Formulare aus, nicht wahr? Ja, man füllte die Formulare aus und schrieb ordentlich und lesbar. Das waren die Grundsätze, auf denen das Leben beruhte. Anscheinend auch noch, wenn es mit dem Leben zu Ende ging.
Er zog sich die übrigen Sachen wieder über seinen gänsehäutigen Oberkörper und legte dann zwei der tropfenförmigen Atemmasken übereinander an. Er überlegte, sich auch welche über die Ohren zu ziehen, und stellte sich vor, wie sich die Gummibänder über seinen Hinterkopf ziehen würden wie die Riemen eines Schulterholsters, und da brach er in Gelächter aus. Sonst noch was? Wollte er sich die letzte Maske dann über ein Auge spannen? Heiliger Bimbam!
»Wenn ich's kriege, dann kriege ich's halt«, sagte er und mahnte sich dann doch, dass es nicht schaden konnte, vorsichtig zu sein; ein bisschen Vorsicht hat noch keinem geschadet, wie der alte Lamar immer gesagt hatte.
In der Hütte war der Pilz (oder Schimmel oder was es auch war) auch während der kurzen Zeitspanne, die Henry im Schuppen gewesen war, eindeutig weitergewachsen. Der Navajo-Teppich war nun vollständig davon überwuchert, und von seinem Muster war nichts mehr zu erkennen. Es wuchs auf dem Sofa, auf dem Tresen zwischen Küche und Wohnzimmer und auf der Sitzfläche zweier der drei Hocker, die auf der Wohnzimmerseite am Tresen standen. Eine Ranke aus rotgoldenem Flaum lief ein Bein des Esszimmertischs hoch, als würde sie der Spur von etwas Verschüttetem folgen, und Henry musste daran denken, wie sich Ameisen auch an der flüchtigsten Spur von verstreutem Zucker einfanden. Das Erschreckendste war vielleicht das mit rotgoldenem Flaum überzogene Spinnennetz, das über dem Navajo-Teppich hing. Henry starrte es ein paar Sekunden lang an, ehe ihm bewusst wurde, was das eigentlich war: Lamar Cla-rendons
Traumfänger. Henry würde, dachte er, nie erfahren, was genau hier vorgefallen war, aber eines wusste er mit Sicherheit: Diesmal hatte der Traumfänger einen absoluten Albtraum eingefangen.
Du willst doch nicht im Ernst weiter hier reingehen, oder? Wo du jetzt gesehen hast, wie schnell es wächst? Jonesy sah okay aus, als er vorbeigefahren ist, aber er war nicht okay, das weißt du doch. Du hast es gespürt. Und deshalb ... willst du da doch nicht reingehen, oder?
»Doch«, sagte Henry. Die doppelte Maske bewegte sich beim Sprechen auf und ab. »Wenn es mich packt... tja, dann muss ich mich halt umbringen.«