Henry bekam ein Streichholz zu fassen, hielt es hoch und legte den Daumen an die Spitze. Ein Trick, den ihm Pete vor langer Zeit beige bracht hatte. Es waren immer die Freunde, die einem die wirklich guten Sachen beibrachten, nicht wahr? Wie man zum Beispiel ihrem alten Kumpel Biber eine Wikingerbestattung bescherte und mit einem Schlag auch noch diese ekligen Minischlangen loswurde.
»Egg man!«
Er rieb die Streichholzspitze an, und sie loderte auf. Der Geruch des brennenden Schwefels ähnelte dem Gestank, der ihm entgegengeschlagen war, als er die Hütte betreten hatte, ähnelte auch dem Gestank der Fürze der dicken Frau.
» Walrus!«
Er warf das Streichholz vors Bett auf eine zusammengeknüllte Daunendecke, die nun mit Grillanzünder getränkt war. Für einen Moment flackerte die Flamme bläulich an dem kleinen Holzstäbchen hinunter, und Henry dachte schon, sie würde erlöschen. Dann hörte man ein leises Fump, und die Daunendecke umgab eine bescheidene Krone aus gelben Flammen.
» Goo-goo-joob!«
Die Flammen fraßen sich am Bett hoch und färbten das blutgetränkte Laken schwarz. Sie erreichten den Großteil der mit Schleim umhüllten Eier, kosteten davon und fanden Geschmack daran. Mit lautem Knall begannen die Eier zu platzen. Wieder dieses hohe Wimmern, als die Würmchen brannten. Zischende Geräusche, als Flüssigkeit aus den geplatzten Eiern verdampfte.
Henry ging rückwärts aus dem Zimmer und versprühte dabei weiter Grillanzünder. Er war schon halb über den
Navajo-Teppich, als die Dose endlich leer war. Er warf sie weg, riss noch ein Streichholz an und warf es hin. Diesmal machte es sofort Fump!, und die Flammen loderten orangefarben auf. Die Hitze brannte auf seinem schweißnassen Gesicht, und plötzlich verspürte er den ebenso mächtigen wie freudigen Drang, die Atemmasken abzustreifen und einfach ins Feuer hineinzugehen. Hallo Wärme, hallo Sommer, hallo Dunkelheit, alte Freundin.
Etwas ebenso Schlichtes wie Überzeugendes hielt ihn davon ab. Wenn er jetzt den Stöpsel zog, hatte er das unangenehme Wiedererwachen all seiner tieferen Gefühle völlig sinnlos durchlitten. Er würde zwar nie in allen Einzelheiten erfahren, was hier passiert war, konnte aber wenigstens ein paar Antworten bekommen von den Leuten, die die Hubschrauber flogen und die Tiere abschössen. Wenn sie ihn denn nicht ebenfalls einfach abschössen.
An der Tür angelangt, kam Henry eine Erinnerung, die so deutlich war, dass sein Herz aufschrie: Biber, wie er vor Duddits kniete, als der versuchte, sich seinen Turnschuh falsch herum anzuziehen. Lass mich mal machen, Mann, sagte Biber, und Duddits schaute ihn mit dieser großäugigen Verdutztheit an, die man einfach lieben musste, und erwiderte: Was mahn?
Henry weinte wieder. »Tschüs, Biber«, sagte er. »Ich liebe dich, Mann - und das kommt von Herzen.«
Dann ging er hinaus in die Kälte.
Er ging zum anderen Ende der Hütte, wo das Brennholz lagerte. Daneben war eine zweite, ältere, gräuliche Plane, die früher einmal schwarz gewesen war. Sie war am Boden festgefroren, und Henry musste mit beiden Händen daran zerren, um sie loszubekommen. Darunter befand sich ein Gewirr aus Schneeschuhen, Schlittschuhen und Skiern. Auch ein vorsintflutlicher Eisbohrer lag darunter.
Als er diesen wenig ansprechenden Haufen lange nicht benutzter Winterausrüstung betrachtete, merkte Henry mit einem Mal, wie müde er war ... nur dass müde wirklich ein zu schwaches Wort dafür war. Er hatte eben zu Fuß zehn Meilen zurückgelegt, größtenteils joggend. Er hatte einen Autounfall durchgemacht und die Leiche eines Freundes aus Kindertagen entdeckt. Und er glaubte, dass seine anderen beiden Freunde aus Kindertagen ebenfalls verloren waren.
Wenn ich nicht überhaupt so in Selbstmordlaune wäre, wäre ich längst des Wahnsinns fette Beute, dachte er und lachte dann. Es tat gut zu lachen, aber davon wurde er auch nicht fitter. Und er musste weg von hier, musste irgendjemand Zuständigen finden und erzählen, was hier passiert war. Sie wussten es vielleicht schon - den ganzen Geräuschen nach zu urteilen, wussten sie ganz bestimmt irgendwas, und wie sie darauf reagierten, löste bei Henry Beklommenheit aus -, aber vielleicht wussten sie ja noch nicht von den Wieseln. Und von den Eiern. Er, Henry Devlin, würde ihnen davon berichten — wer denn auch sonst? Er war ja schließlich der Eggman, der Eiermann.
Die Rohleder-Bespannung der Schneeschuhe war von so vielen Mäusen angenagt, dass kaum mehr als leere Rahmen übrig waren. Nach einigem Suchen fand er aber ein kurzes Paar Langlaufski, die aussahen, als hätten sie so um 1954 dem neuesten Stand der Technik entsprochen. Die Bindungen waren verrostet, aber als er mit beiden Daumen drückte, gelang es ihm, dass sie sich zögerlich um die Sohlen seiner Stiefel schlössen.
Aus der Hütte hörte man nun ein stetes Prasseln. Henry legte eine Hand an die Holzwand und spürte die Wärme. Unter dem Dachvorsprung lehnten Skistöcker wirr durcheinander. Ihre Griffe waren mit schmierigen Spinnweben überzogen. Henry sträubte sich, das anzufassen - die Erin-nerung an die Eier und den krabbelnden Wiesellaich war noch zu frisch -, aber er hatte ja schließlich seine Handschuhe an. Er wischte die Spinnweben weg und sah schnell die Skistöcker durch. Jetzt sah er in dem Fenster neben seinem Kopf die Funken stieben.
Er fand ein Paar Skistöcker, das kaum zu kurz für ihn war, und fuhr auf den Skiern unbeholfen zur Ecke des Gebäudes. Mit den alten Skiern an den Füßen und Jonesys Gewehr am Riemen über der Schulter kam er sich vor wie ein Nazi-Gebirgsjäger in einem Alistair-MacLean-Film. Als er sich umdrehte, platzte die Fensterscheibe, neben der er gestanden hatte, mit erstaunlich lautem Knall - so laut, als hätte jemand eine große Glasschüssel aus dem ersten Stock geworfen. Henry duckte sich weg und spürte Glassplitter auf seiner Jacke aufprallen. Etliche landeten in seinem Haar. Ihm ging auf, dass ihm das splitternde Glas das ganze Gesicht zerschnitten hätte, hätte er noch zwanzig oder dreißig Sekunden länger Skistöcker sortiert.
Er schaute zum Himmel, hielt sich die Handrücken wie AI Jolson an die Wangen und rief: »Ich habe da oben wohl einen FreundiJuchu!«
Jetzt schlugen Flammen zum Fenster heraus und loderten unter den Dachvorsprung, und drinnen hörte er weitere Dinge in der sprunghaft ansteigenden Hitze platzen und splittern. Das Camp von Lamar Clarendons Vater, ursprünglich kurz nach dem Zweiten Weltkrieg erbaut, brannte jetzt lichterloh. Das konnte doch einfach alles nur ein Traum sein.
Henry fuhr auf den Skiern in weitem Bogen ums Haus herum und sah zu, wie Funken aus dem Kamin stoben und zu den niedrig hängenden Wolkenbäuchen aufwirbelten. Aus dem Osten scholl immer noch stetes Maschinengewehrrattern. Da schöpften aber einige ihre Quote aus. Mehr als nur das. Dann erklang im Westen eine Explosion - was um Gottes willen war da geschehen? Unmöglich festzustellen.
Wenn er heil bei anderen Menschen ankam, würden sie es ihm vielleicht erzählen.
»Wenn die mich nicht auch einfach umlegen«, sagte er. Seine Stimme war nur noch ein trockenes Krächzen, und da erst merkte er, wie durstig er war. Er bückte sich vorsichtig (er hatte zehn Jahre oder noch länger nicht mehr auf Skiern gestanden), nahm zwei Hände voll Schnee und stopfte ihn sich in den Mund. Er ließ ihn schmelzen und seine Kehle hinabrinnen. Es war ein göttliches Gefühl. Henry Devlin, Psychiater und Verfasser eines Essays über die Hemingway-Lösung, ein Mann, der einst ein unschuldiger Junge gewesen war und jetzt ein großer, plumper Kerl, dem immer die Brille auf die Nasenspitze rutschte, der graue Haare bekam und dessen Freunde entweder tot oder auf der Flucht oder verwandelt waren, dieser Mann stand am offenen Tor zu einer Hütte, zu der er nie zurückkehren würde, stand da auf Skiern, stand da und aß Schnee, wie ein Kind im Zirkus einen Eislutscher aß, stand da und sah zu, wie der letzte richtig angenehme Ort, den er in seinem Leben hatte, niederbrannte. Die Flammen schlugen durch das mit Holzschindeln gedeckte Dach. Schmelzender Schnee verwandelte sich in dampfendes Wasser und lief zischend in die rostigen Dachrinnen. Feuerarme ragten zappelnd aus der Haustür, als wäre das Feuer ein begeisterter Gastgeber, der eben eingetroffenen Gästen zuwinkte, sie sollten sich beeilen, sollten schnell machen und hereinkommen, ehe das Haus ganz abgebrannt war. Die Schicht aus rotgoldenem Flaum, die auf dem Granitblock wuchs, brutzelte vor sich hin, büßte ihre Farbe ein, wurde grau. »Gut«, murmelte Henry. Er ballte rhythmisch die Fäuste um die Griffe der Skistöcker, ohne es zu bemerken. »Gut. Das ist gut.«