So stand er noch eine Viertelstunde da, und dann konnte er es nicht mehr ertragen, kehrte den Flammen den Rücken zu und brach in die Richtung auf, aus der er gekommen war.
Er brachte keine Eile mehr auf. Er hatte zwanzig Meilen vor sich (22,2, um genau zu sein, sagte er sich), und wenn er es nicht etwas langsamer anging, würde er es nie schaffen. Er blieb in der Spur des Schneemobils und hielt häufiger als auf dem Hinweg an, um sich zu verschnaufen.
Ah, aber da war ich ja auch noch jünger, dachte er nur leicht ironisch.
Zweimal sah er auf seine Armbanduhr, da er vergessen hatte, dass es in Jefferson Tract jetzt Punkt irgendwann Eas-tern Standard Time war. Angesichts der dichten Wolkendecke konnte er lediglich mit Sicherheit sagen, dass es noch Tag war. Es war natürlich Nachmittag, aber ob nun Frühoder Spät-, das konnte er unmöglich feststellen. An einem anderen Nachmittag hätte sein Appetit vielleicht als Zeitmaß dienen können, aber nicht heute. Nicht nach dem Ding auf Jonesys Bett und den Eiern und den Haaren mit den vorstehenden schwarzen Augen. Nicht nach dem aus der Badewanne ragenden Fuß. Er fühlte sich, als würde er nie wieder etwas essen wollen ... und wenn doch, dann auf keinen Fall etwas, das auch nur eine Spur rötlich war. Und Pilze? Nein, danke.
Skifahren, zumindest auf kurzen Langlaufskiern wie diesen hier, war ein wenig wie Fahrrad fahren, das stellte er fest: Man verlernte es nicht. Er stürzte einmal, als er den ersten Hügel hochfuhr und die Skier unter ihm wegrutschten, aber die andere Seite glitt er dann in Schwindel erregendem Tempo hinunter, schwankte dabei nur ein wenig, fiel aber nicht hin. Die Skier waren vermutlich zum letzten Mal gewachst worden, als der Erdnussfarmer Präsident war, aber solange er sich in der Spur des Schneemobils hielt, würde es wohl gehen. Er bestaunte die Vielzahl der Tierspuren auf der Deep ^ut Road - in seinem ganzen Leben hatte er nicht mal ein Zehntel dessen gesehen. Ein paar Tiere waren an der Straße entlanggelaufen, aber die meisten Spuren kreuzten sie nur von West nach Ost. Die Deep Cut Road führte in weitem Bogen nach Nordwesten, und der Westen war eine Himmelsrichtung, mit der die einheimische Tierwelt eindeutig nichts zu tun haben wollte.
Ich unternehme eine Reise, sagte er sich. Vielleicht wird eines Tages jemand ein Epos darüber schreiben: Henrys Reise.
»Ja, genau«, sagte er. »Die Welt hing schief, die Zeit gerann, doch nichts hielt auf den Eiermann.« Er lachte darüber, und in seiner ausgetrockneten Kehle verwandelte sich das Gelächter in trockenen Husten. Er hielt am Rand der Schneemobilspur, nahm noch zwei Hände voll Schnee und aß sie.
»Lecker ... und gesund!«, verkündete er. »Schnee! Nicht mehr nur zum Frühstück!«
Er sah zum Himmel, und das war ein Fehler. Für einen Moment packte ihn der Schwindel, und er dachte schon, er würde hintenüber kippen. Dann legte sich das. Die Wolken oben sahen ein bisschen dunkler aus als zuvor. Lag Schnee in der Luft? Oder wurde es schon dunkel? Oder sowohl als auch? Die Knie und Knöchel taten ihm vom Skifahren weh, und die Arme schmerzten sogar noch mehr. Aber am schlimmsten wütete der Schmerz in seiner Brustmuskulatur. Er hatte es längst hingenommen, dass er es nicht bis zum Einbruch der Dunkelheit zu Gosselin's schaffen würde; jetzt, da er hier stand und wieder Schnee aß, ging ihm auf, dass er es vielleicht gar nicht schaffen würde.
Er löste das Red-Sox-T-Shirt, das er sich ums Bein gebunden hatte, und war starr vor Entsetzen, als er einen leuchtend scharlachroten Faden auf seinen Bluejeans sah. Sein Herz pochte so schnell, dass ihm weiße Flecken vor den Augen tanzten. Mit zitternden Fingern fasste er dorthin.
Was willst du denn jetzt tun?, fragte er sich höhnisch. Willst du es wegschnippen, als ob es ein Fussel wäre?
Und genau das tat er, denn es war ein Fusseclass="underline" ein roter Faden aus dem aufgedruckten Emblem auf dem T-Shirt. Er schnippte ihn weg und sah zu, wie er in den Schnee trudelte. Dann band er sich wieder das T-Shirt um den Riss in seinen Jeans. Für jemanden, der keine vier Stunden zuvor über alle möglichen letzten Optionen nachgedacht hatte - das Seil und die Schlinge, die Badewanne und die Plastiktüte, der Sprung von der Brücke und die allzeit beliebte Flemingway-Lösung, mancherorts auch Polizistenabschied genannt -, hatte er ein, zwei Sekunden lang eine ziemliche Fleidenangst ausgestanden.
Weil ich so nicht enden will, sagte er sich. Ich will nicht bei lebendigem Leibe aufgefressen werden von ...
»Von den Giftpilzen vom Planeten X«, sagte er.
Der Eiermann setzte sich wieder in Bewegung.
8
Die Welt schrumpfte zusammen, wie das immer so ist, wenn man sich der Erschöpfung nähert und die Arbeit noch längst nicht getan ist. Flenrys Leben war auf vier einfache, wiederholte Bewegungen reduziert: das Abstoßen mit den Skistöckern und das Schieben der Skier im Schnee. Seine Schmerzen verflogen, zumindest vorläufig, als er in einen anderen Bereich vordrang. Er konnte sich nur an ein entfernt ähnliches Erlebnis aus seiner High-School-Zeit erinnern, als er Center der Basketballmannschaft der Derry Tigers gewesen war. Bei einem entscheidenden Liga-Spiel hatten es drei ihrer vier besten Spieler zur Hälfte der zweiten Halbzeit geschafft, sich vom Platz stellen zu lassen. Der Trainer hatte Henry für den Rest des Spiels drin gelassen - er kam überhaupt nicht an den Ball, höchstens nach Auszeiten und bei Freiwürfen. Er überstand es, aber als endlich die Schluss-Si-rene ertönte und der Sache ein Ende machte (die Tigers hatten haushoch verloren), hatte er sich gefühlt, als schwebte er in einem schönen Traum. Auf halbem Weg in die Umkleidekabine waren ihm die Beine weggeknickt, und er war mit einem blöden Lächeln im Gesicht zu Boden gegangen, während seine Mannschaftskameraden, die ihre roten Trainingsanzüge trugen, gelacht und gejubelt und geklatscht und gepfiffen hatten.
Hier klatschte oder pfiff niemand; hier war nur aus dem Osten das stete Maschinengewehrfeuer zu hören. Es hatte vielleicht ein wenig nachgelassen, war aber immer noch heftig-
Noch bedrohlicher wirkten gelegentliche Gewehrschüsse aus der Richtung, in die er fuhr. Vielleicht bei Gosselin's? Es war unmöglich festzustellen.
Er hörte sich den Rolling-Stones-Song singen, den er am allerwenigsten mochte, Sympathy for the Devil (Made damn sure that Pilate washed bis hands and sealed His fate. Herzlichen Dank, ihr wart ein wunderbares Publikum, gute Nacht) und zwang sich, damit aufzuhören, als er merkte, dass der Song ganz mit Erinnerungen an Jonesy im Krankenhaus verwoben war, Jonesy, wie er im vergangenen März ausgesehen hatte, nicht nur abgehärmt, sondern irgendwie weniger er selbst, als hätte sich sein Wesen in sich selbst zurückgezogen, um einen Schutzpanzer um den erstaunten, entsetzten Körper zu bilden. Jonesy hatte für Henry wie ein Todeskandidat ausgesehen, und nun wurde Henry klar, dass es um diese Zeit herum mit seinen eigenen Selbstmordabsichten so richtig ernst geworden war. Zu dem Verbrecheralbum der Bilder, die ihn nächtens heimsuchten - blauweiße Milch, die seinem Vater übers Kinn lief, Barry Newmans riesige Pobacken, wie sie schlabberten, als er aus seinem Sprechzimmer floh, Richie Grenadeau, der dem weinenden und fast nackten Duddits Cavell ein Stück Hundekacke hinhielt und ihm befahl, es zu essen - war jetzt das Bild von Jonesys viel zu schmalem Gesicht und seinem benebelten