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»Ja ... gut. Mach ich.«

»Schön.«

»Und dir geht's gut?«

»Mir geht es gut.«

Doch Jonesy glaubt nicht, dass es Henry gut geht. Er will eben noch etwas sagen, als sich hinter ihm jemand räuspert und ihm klar wird, dass Defuniak eingetroffen ist.

»Na, das ist doch schön«, sagt er und dreht sich auf seinem Stuhl um. Ja, da steht sein Elf-Uhr-Termin im Türrahmen und sieht ganz und gar harmlos aus: nur ein Junge in einem dicken, alten Dufflecoat, der zu warm für dieses Wetter ist; er sieht dünn und unterernährt aus, trägt einen Ohrring, und seine irgendwie punkige Frisur ragt stachelig über seine besorgt blickenden Augen. »Henry, ich habe einen Termin. Ich rufe dich zurück -«

»Nein, das ist nicht nötig. Wirklich nicht.«

»Bestimmt nicht?«

»Nein. Aber da ist noch etwas. Hast du noch dreißig Sekunden Zeit?«

»Klar.« Er hält einen Finger hoch, und Defuniak nickt. Er bleibt aber stehen, bis Jonesy auf den, von seinem eigenen abgesehen, einzigen Stuhl in seinem kleinen Büro weist, auf dem keine Bücher aufgestapelt sind. Defuniak geht zögerlich dorthin. Ins Telefon sagt Jonesy: »Schieß los.«

»Ich glaube, wir sollten nach Derry fahren. Nur ein kleiner Ausflug, nur wir beide. Unseren alten Freund besuchen.«

»Du meinst -?« Aber mit einem Fremden im Zimmer will er diesen babyhaft klingenden Namen nicht aussprechen.

Er muss es auch nicht. Henry übernimmt das. Einst waren sie zu viert, dann waren sie für kurze Zeit zu fünft, und dann waren sie wieder zu viert. Doch der Fünfte hat sie eigentlich nie verlassen. Henry spricht den Namen aus, den Namen eines Jungen, der auf wundersame Weise immer noch ein Junge ist. Bei ihm sind Henrys Sorgen nicht so vage und lassen sich leichter ausdrücken. Nicht dass er etwas wüsste, erzählt er Jonesy, es ist nur so ein Gefühl, dass sich ihr alter Freund über einen Besuch freuen würde.

»Hast du mit seiner Mutter gesprochen?«, fragt Jonesy.

»Ich glaube«, sagt Henry, »es wäre besser, wenn wir einfach ... unangemeldet vorbeischaun. Wie sieht's denn an diesem Wochenende in deinem Terminkalender aus? Oder am nächsten?«

Da muss Jonesy nicht nachschauen. Das Wochenende beginnt übermorgen. Am Samstag hat er noch einen Fakultätstermin, aber den kann er problemlos schwänzen.

»Ich könnte dieses Wochenende an beiden Tagen«, sagt er. »Wenn ich am Samstag kommen würde? Um zehn?«

»Das wäre schön.« Henry klingt erleichtert, schon eher

ganz wieder der Alte. Jonesy wird ein wenig lockerer. »Bestimmt?«

»Wenn du meinst, dass wir...« Jonesy zögert, »... Douelas besuchen sollten, dann sollten wir das wahrscheinlich &

tun. Haben wir viel zu lange nicht mehr gemacht.«

»Du hast jemanden im Büro, nicht wahr?«

»Mmmh.«

»Gut. Wir sehn uns dann am Samstag um zehn. Hey, vielleicht nehmen wir den Scout. Der braucht mal Auslauf. Wie wäre das?«

»Das wäre toll.«

Henry lacht. »Packt dir Carla immer noch dein Lunchpaket, Jonesy?«

»Ja, das macht sie.« Jonesy schaut zu seiner Aktentasche hinüber.

»Was hast du heute? Thunfisch-Sandwich?«

»Eiersalat.«

»Mmmmm. Okay, ich leg jetzt auf. SSAT, klar?«

»SSAT«, pflichtet Jonesy bei. Vor einem Studenten kann er ihren alten Freund nicht bei seinem richtigen Namen nennen, aber SSAT geht in Ordnung. »Wir sprechen uns später.«

»Und pass auf dich auf. Das ist mein Ernst.« Die Ernsthaftigkeit ist nicht zu überhören und ängstigt ihn ein wenig. Doch ehe Jonesy etwas erwidern kann (und was er sagen sollte, da Defuniak in der Ecke sitzt und zusieht und lauscht, weiß er ohnehin nicht), hat Henry schon aufgelegt.

Jonesy betrachtet den Hörer für einen Moment nachdenklich und legt dann ebenfalls auf. Er blättert in seinem Terminkalender, und am Samstag streicht er Drinks bei Dekan Jacobson durch und schreibt Absagen - mit Henry nach Derry, D. besuchen darunter. Doch das ist eine Verabredung, die er nicht einhalten wird. Am Samstag wird er an alles denken, aber nicht an Derry und seine alten Freunde. Jonesy atmet tief ein und wieder aus und richtet seine Aufmerksamkeit dann auf seinen lästigen Elf-Uhr-Termin. Der Junge rutscht unbehaglich auf dem Stuhl hin und her. Er weiß durchaus, weshalb er hierher zitiert wurde, vermutet Jonesy.

»Also, Mr. Defuniak«, sagt er, »Ihrer Akte nach kommen Sie aus Maine.«

»Äh, ja. Aus Pittsfield. Ich -«

»In Ihrer Akte steht auch, dass Sie Stipendiat sind und sich bisher gut geschlagen haben.«

Der Junge, das sieht er, ist mehr als nur besorgt. Er ist den Tränen nah. Herrgott. Es ist nicht einfach. Jonesy hat noch nie einen Studenten des Schummeins beschuldigen müssen, aber allzu lange unterrichtet er ja auch noch nicht, und deshalb geht er davon aus, dass es nicht das letzte Mal sein wird. Er hofft nur, dass es nicht zu oft Vorkommen wird. Denn es ist hart; Biber würde Kackorama dazu sagen.

»Mr. Defuniak - David -, wissen Sie, was mit einem Stipendium geschieht, wenn der Stipendiat beim Schummeln erwischt wird? Sagen wir mal, bei einer Prüfung in der Mitte des Semesters?«

Der Junge zuckt zusammen, als hätte ihm gerade irgendein unter dem Stuhl verborgener Scherzbold einen leichten Stromschlag in den dürren Arsch gejagt. Jetzt bibbern seine Lippen, und die erste Träne, ach Gott, da läuft sie seine milchbärtige Wange hinab.

»Das kann ich Ihnen verraten«, sagt Jonesy. »Solche Stipendien verfallen. Das passiert mit ihnen. Schwupps, und sie lösen sich in Luft auf.«

»Ich — ich -«

Auf Jonesys Schreibtisch liegt eine Mappe. Er schlägt sie auf und nimmt eine Prüfung über europäische Geschichte heraus, eine dieser Multiplechoice-Ungeheuerlichkeiten, auf welche die Fakultät in ihrer immensen Un-Weisheit beharrt. Oben drüber steht mit den schwarzen Strichen eines IBM-Bleistifts (»Kreuzen Sie deutlich an, und radieren Sie vollständig, wenn Sie etwas tilgen müssen«) der Name david

DEFUNIAK.

»Ich habe mir Ihre Leistungen im Seminar angesehen; ich habe Ihren Aufsatz über den Feudalismus im mittelalterlichen Frankreich noch mal quergelesen; ich habe mir Ihre Mitschriften angesehen. Sie haben sich zwar nicht mit Ruhm bekleckert, haben sich aber wacker geschlagen. Und mir ist bewusst, dass Sie das hier nur als Pflichtkurs absolvieren. Ihre wahren Interessen liegen nicht in meinem Gebiet, nicht wahr?«

Defuniak schüttelt stumm den Kopf. Die Tränen auf seinen Wangen schimmern im tückischen Mittemärzsonnenschein.

Auf Jonesys Schreibtisch steht ein Karton Taschentücher, und er wirft ihn Defuniak hin, der ihn trotz seiner Verzweiflung sauber auffängt. Gute Reflexe. Mit neunzehn ist die Verdrahtung noch straff gespannt und alle Verbindungen schön solide.

Warte mal ein paar Jahre ab, Mr. Defuniak, denkt er. Ich bin gerade mal siebenunddreißig, und bei mir schlottert es schon hin und wieder.

»Vielleicht haben Sie noch eine Chance verdient«, sagt Jonesy.

Ganz langsam und bedächtig knüllt er Defuniaks Prüfbogen, der verdächtig makellos ist, eine Eins-Plus-Arbeit, zusammen.

»Vielleicht waren Sie am Tag der Prüfung ja krank und haben gar nicht daran teilgenommen.«

»Ich war krank«, sagt David Defuniak geflissentlich. »Ich glaube, ich hatte Grippe.«

»Dann sollte ich Ihnen wohl eine Hausarbeit aufgeben, statt des Multiplechoice-Tests, an dem Ihre Kommilitonen teilnehmen mussten. Wenn Sie möchten. Statt der Prüfung, die Sie verpasst haben. Wäre Ihnen das recht?«

»Ja«, sagt der Junge und wischt sich gleich mit mehreren

Taschentüchern die Augen trocken. Zumindest hat er ihm nicht diesen ganzen kleinlichen Quatsch aufgetischt, dass Jonesy ihm nichts beweisen könne, überhaupt nichts, dass er die Sache vor die Studentenvertretung bringen werde, dass er zu einem Protest aufrufen werde und bla-bla-bla-di-bla. Nein, vielmehr weint er, und das ist nicht schön anzusehen, wahrscheinlich aber ein gutes Zeichen - mit neunzehn ist man noch jung, aber zu viele von ihnen haben in dem Alter schon keinerlei Gewissen mehr. Defuniak hat es ohne große Umschweife zugegeben, was darauf hindeuten mag, dass in ihm doch noch ein richtiger Mann schlummert. »Ja, das wäre toll.«