Daher war Pearly beunruhigt, aber nicht ungewöhnlich beunruhigt gewesen, als er den dritten Koch Melrose in den überheizten Kommandostand gebracht hatte. Und Kurtz hatte auch ganz normal ausgesehen. Der Skipper saß da auf einem Rohr-Schaukelstuhl in seinem Wohnbereich. Er hatte sich den Overall ausgezogen - der hing an der Tür, durch die Pearlmutter und Melrose eingetreten waren - und hatte sie in langer Unterhose empfangen. An einer Seitenstrebe des Schaukelstuhls hing seine Pistole in einem Gürtelholster, keine 45er mit Perlmutt-Griffschalen, sondern eine Automatik Kaliber neun Millimeter.
Sämtliche elektronischen Gerätschaften spielten verrückt. Auf Kurtz' Schreibtisch summte das Faxgerät ohne Unterlass und spuckte Papier aus. Etwa alle fünfzehn Sekunden schrie Kurtz' iMac mit freudiger Roboterstimme: »Sie ha-ben neue Nachrichten!« Aus drei leise gestellten Funkgeräten knackten und krächzten die Meldungen. An dem Kiefernholzfurnier hinter dem Schreibtisch waren zwei gerahmte Fotos angebracht. Wie auch das Schild an der Tür begleiteten diese Bilder Kurtz überallhin. Das linke, auf dem Investition stand, zeigte einen engelsgleichen Jungen in Pfadfinderuniform, die rechte Fland zum dreifingrigen Pfadfindergruß erhoben. Das rechte mit der Bildlegende dividende war eine Luftaufnahme von Berlin aus dem Frühjahr 1945. Zwei oder drei Gebäude standen noch, aber größtenteils zeigte die Kamera eine mit Ziegelsteinen übersäte Trümmerwüste.
Kurtz wies mit abschätziger Handbewegung auf seinen Schreibtisch. »Kümmert euch nicht drum, Jungs - das ist alles nur Lärm. Das hier ist Freddy Johnsons Aufgabe, aber den habe ich rüber zur Intendantur geschickt, damit er mal was isst. Ich habe ihm gesagt, er soll sich Zeit lassen, soll sich alle vier Gänge schmecken lassen, von der Suppe bis zu den Nüssen, von Poisson bis Sorbet, denn die Lage hier ist... Jungs, die Lage hier ist so gut wie ... STABILISIERT!« Er schenkte ihnen ein grimmiges Roosevelt-Grinsen und setzte seinen Schaukelstuhl in Bewegung. Neben ihm schwang die Pistole in ihrem Gürtelholster wie ein Pendel.
Melrose erwiderte Kurtz' Lächeln vorsichtig, Perlmutter schon weniger zurückhaltend. Er wusste Kurtz einzuschätzen, na klar; der Boss war von A bis Z pseudo ... und man musste das für eine gute Entscheidung halten. Eine ausgezeichnete Entscheidung. Geisteswissenschaftliche Bildung brachte einem bei einer Militärlaufbahn keine großen Vorteile, einige wenige aber doch. Man konnte zum Beispiel besser schwafeln.
»Mein einziger Befehl an Lieutenant Johnson - huch, keine Dienstgrade, an meinen guten Freund Freddy Johnson, wollte ich sagen - lautete, dass er das Tischgebet sprechen soll, bevor's ans Futtern geht. Betet ihr, Jungs?«
Melrose nickte so vorsichtig, wie er gelächelt hatte; Perl-rnutter nickte nachsichtig. Er war sicher, dass Kurtz' oft beschworener Gottesglaube nur Show war, genau wie sein Name.
Kurtz schaukelte und betrachtete frohgemut die beiden Männer, zu deren Füßen der Schnee von ihren Schuhen auf dem Boden schmolz. »Die besten Gebete sind Kindergebete«, sagte Kurtz. »Diese Schlichtheit, wissen Sie. >Alle guten Gaben, alles, was wir haben, kommt, o Gott, von dir. Wir danken dir dafür.« Ist das nicht schlicht? Ist das nicht schön?«
»Ja, a-«, setzte Pearly an.
»Halten Sie die Schnauze, Sie Hund«, sagte Kurtz vergnügt. Er schaukelte immer noch. Die Waffe pendelte immer noch im Gürtelholster hin und her. Er richtete den Blick von Pearly auf Melrose. »Was meinen Sie denn, mein Bürschchen? Ist das ein schönes kleines Gebet, oder ist das ein schönes kleines Gebet?«
»Ja,S-«
»Oder Allah akbar, wie unsere arabischen Freunde sagen; >Gott ist groß<. Was könnte es denn noch Schlichteres geben? Das dringt doch direkt zum Mittelpunkt der Pizza vor, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Sie antworteten nicht. Kurtz schaukelte jetzt schneller, und die Pistole pendelte schneller, und Perlmutter wurde allmählich etwas mulmig zu Mute, wie schon am Mittag, ehe Underhill dann eingetroffen war und Kurtz gewissermaßen wieder auf den Teppich gebracht hatte. Er plusterte sich wahrscheinlich nur wieder auf, aber -
»Oder Moses und der brennende Dornbusch!«, schrie Kurtz. Sein schmales, eher pferdeartiges Gesicht setzte ein dämlichen Lächeln auf. >Mit wem rede ich da?<, fragt Moses, und Gott erzählt ihm: >Ich bin, der ich bin, und das ist alles, was ich bin, und bläh bläh blah.< Ein ziemlicher Scherzkeks, dieser Gott, was, Mr. Melrose, haben Sie unsere Abgesandten aus den Weiten des Alls tatsächlich als Weltraum-Nigger < bezeichnet?«
Melrose klappte die Kinnlade herunter.
»Antworten Sie mir, Bursche.«
»Sir, ich —«
»Wenn Sie mich noch einmal Sir nennen, während wir im Einsatz sind, dann feiern Sie Ihre nächsten beiden Geburtstage im Bau. Haben Sie das verstanden, Mr. Melrose? Haben Sie das jetzt endlich gefressen?«
»Ja, Boss.« Melrose war plötzlich ganz Ohr. Sein Gesicht war kreidebleich, bis auf die roten Wangen von der Kälte, und die Riemen seiner Maske teilten diese roten Stellen säuberlich entzwei.
»Haben Sie unsere Besucher also als >Weltraum-Nigger< bezeichnet oder nicht?«
»Sir, vielleicht habe ich beiläufig so etwas gesagt -«
Sich mit einer Schnelligkeit bewegend, die Perlmutter kaum fassen konnte (es war fast wie ein Spezialeffekt in einem James-Cameron-Film), riss Kurtz die Pistole aus dem pendelnden Holster, richtete sie aus, anscheinend ohne zu zielen, und schoss. Die obere Hälfte des Turnschuhs an Mel-roses linkem Fuß platzte auf. Leintuchfetzen flogen umher. Perlmutters Hosenbein bekam Blutspritzer und Fleischfasern ab.
Das habe ich nicht gesehen, dachte Pearly. Das ist nicht passiert.
Aber Melrose schrie, schaute gequält und fassungslos zu seinem zerschossenen linken Fuß hinunter und schrie sich die Kehle aus dem Hals. Perlmutter sah Knochen in der Wunde, und ihm drehte sich der Magen um.
Kurtz stand nicht ganz so schnell von dem Schaukelstuhl auf, wie er die Pistole aus dem Holster gezogen hatte - das konnte Perlmutter jetzt wenigstens sehen -, trotzdem aber noch sehr schnell. Gespenstisch schnell.
Er packte Melrose an der Schulter und starrte dem dritten Koch ins schmerzverzerrte Gesicht. »Hören Sie auf zu heulen, Bürschchen.«
Melrose heulte weiter. Aus seinem Fuß sprudelte Blut, und für Pearly sah es so aus, als wäre der vordere Teil mit den Zehen vom hinteren mit dem Hacken abgetrennt. Pearly bekam weiche Knie, und ihm drehte sich alles vor Augen. Mit aller Willenskraft riss er sich zusammen. Wenn er jetzt ohnmächtig wurde, wusste Gott allein, was Kurtz mit ihm anstellen würde. Perlmutter hatte Storys gehört und neunzig Prozent davon auf der Stelle abgetan, weil er dachte, es wären entweder Übertreibungen oder von Kurtz lancierte Propagandalügen, die sein Image als fähiger Irrer untermauern sollten.
Jetzt weiß ich es besser, dachte Perlmutter. Das sind keine Gerüchte. Das ist wahr.
Kurtz, der sich mit fast chirurgischer Präzision bewegte, platzierte die Mündung seiner Pistole mitten auf Melroses käseweißer Stirn.