Henry klatschte mit ausgestreckten Händen, so laut er konnte. Er wurde wahrscheinlich vom Krach der Motoren übertönt, und deshalb brüllte er zwischen hohlen Händen: »Nicht schlecht, Scherge! Ich will die Zeitlupenwiederholung sehn!«
Der mittlere Manager stand auf, ohne sich zu ihm umzusehen, sammelte sein Klemmbrett ein und lief weiter zu den beiden Caravans.
Eine Gruppe von acht oder neun Männern stand gut zwanzig Meter von Henry entfernt am Zaun. Jetzt kam einer von ihnen, ein korpulenter Kerl in einer orangefarbenen Daunenjacke, in der er aussah wie der Pillsbury Dough Boy, zu Henry hinüber.
»Ich glaube, Sie sollten das lassen.« Er hielt inne und senkte die Stimme. »Die haben meinen Schwager erschossen.«
Ja. Henry sah es in seinen Gedanken. Wie der Schwager des korpulenten Kerls, ebenfalls ein korpulenter Kerl, von seinem Anwalt gesprochen hatte, seinen Rechten, seiner Stelle bei einer Investmentbank in Boston. Wie die Soldaten genickt und ihm gesagt hatten, es wäre nur vorübergehend, die Lage würde sich bereits normalisieren und wäre bis zum Morgengrauen geklärt, und wie sie die ganze Zeit die beiden übergewichtigen tapferen Jägersleut' zum Stall gedrängt hatten, der bereits einen ansehnlichen Fang beherbergte, und wie der Schwager dann ganz plötzlich losgelaufen war, auf den Fuhrpark zu, und Bumm-Bumm, das war's dann.
Einiges davon erzählte der korpulente Mann Henry, und sein blasses Gesicht schaute dabei ernst im Licht der eben aufgerichteten Scheinwerfer, und dann unterbrach ihn Henry-
»Was glauben Sie denn, was die mit uns Übrigen tun werden?«
Der korpulente Mann sah Henry schockiert an und wich einen Schritt zurück, als vermutete er, Henry hätte etwas Ansteckendes. Schon lustig, wenn man es recht bedachte, denn sie alle hatten ja etwas Ansteckendes, oder wenigstens gingen diese von der Regierung engagierten Cleaner davon aus, und letztendlich lief das wohl aufs Gleiche hinaus.
»Das kann doch nicht Ihr Ernst sein«, sagte der korpulente Mann. Dann, fast nachsichtig: »Wir sind doch hier in Amerika.«
»Ach ja? Dann finden Sie ja bestimmt auch, dass hier alles seinen geordneten Gang geht, was?«
»Die sind bloß ... das ist bestimmt bloß ...« Henry lauschte interessiert, aber mehr kam da nicht, zumindest nicht in dieser Richtung. »Das war ein Schuss, nicht wahr?«, fragte der korpulente Mann. »Und ich glaube, ich habe jemanden schreien gehört.«
Aus Richtung der beiden zusammengestellten Caravans hasteten zwei Männer mit einer Trage herbei. Ihnen folgte, deutlich widerwillig, der mittlere Manager, das Klemmbrett nun wieder fest unterm Arm.
»Ich würde sagen, da haben Sie richtig gehört.« Henry und der korpulente Mann sahen zu, wie die beiden Männer mit der Trage die Eingangstreppe des Winnebago hocheilten. Als Mr. Mittleres Management am Zaun vorbeikam, rief Henry ihm zu: »Wie läuft's denn, Scherge? Macht's denn auch Spaß?«
Der korpulente Mann zuckte zusammen. Der Typ mit dem Klemmbrett warf Henry einen knappen verdrießlichen Blick zu und stapfte dann weiter zum Winnebago.
»Das ist bloß ... das ist bloß irgendein Notfall«, sagte der korpulente Mann. »Das hat sich bis morgen früh bestimmt geklärt.«
»Aber nicht für Ihren Schwager«, sagte Henry.
Der korpulente Mann sah ihn mit zusammengekniffenem, leicht zitterndem Mund an. Dann ging er zu den anderen Männern zurück, deren Ansichten den seinen zweifellos eher entsprachen. Henry drehte sich wieder zum Winnebago um und wartete weiter, dass Underhill herauskam. Er hatte so eine Ahnung, dass Underhill seine einzige Hoffnung darstellte ... Aber welche Zweifel Underhill auch an dem Einsatz hegen mochte, blieb diese Hoffnung doch vage. Und Henry konnte nur einen einzigen Trumpf ausspielen. Dieser Trumpf war Jonesy. Sie wussten nichts von Jonesy.
Fragte sich bloß, ob er Underhill davon erzählen sollte. Henry hatte schreckliche Angst, dass es zu nichts Gutem führen würde.
Gut fünf Minuten nachdem Mr. Mittleres Management den beiden Sanitätern in den Winnebago gefolgt war, kamen die drei mit einem vierten Mann auf der Trage wieder heraus. Im strahlend hellen Licht der Scheinwerfer sah das Gesicht des Verwundeten so blass aus, dass es fast violett wirkte. Henry war erleichtert, als er sah, dass es nicht Underhill war, denn Underhill war anders als die übrigen Irren hier.
Zehn Minuten vergingen. Underhill hatte den Kommandoposten immer noch nicht verlassen. Henry wartete im dichter werdenden Schneefall. Soldaten beobachteten die Häftlinge (denn das waren sie: Häftlinge, und am besten machte man sich da nichts vor), und schließlich kam einer von ihnen herübergeschlendert. Die Männer, die an der Kreuzung Deep Cut und Swanny Pond Road stationiert gewesen waren, hatten Henry mit ihren Scheinwerfern ziemlich geblendet, und deshalb erkannte er das Gesicht dieses Mannes nicht. Ebenso erfreut wie zutiefst beunruhigt, stellte Henry aber fest, dass auch die Gedanken eines Menschen Züge aufwiesen, die in jeder Hinsicht so unverkennbar waren wie ein hübscher Mund, eine gebrochene Nase oder ein schiefes Auge. Das war einer der Typen, denen er da draußen begegnet war, und der hier hatte ihm mit dem Schaft seines Gewehrs einen Schlag auf den Hintern verpasst, als er fand, dass Henry nicht schnell genug zum Wagen ginge. Was auch immer mit Henrys Gehirn passiert war, alles blieb skizzenhaft; er wusste den Namen des Mannes nicht, wuss-te aber, dass sein Bruder Frankie hieß und dass Frankie während seiner Fligh-School-Zeit wegen Vergewaltigung vor Gericht gestellt und dann freigesprochen worden war. Da war auch noch mehr - ein unzusammenhängendes Wirrwarr wie der Inhalt eines Mülleimers. Flenry wurde klar, dass er tatsächlich einem Bewusstseinsstrom folgte und das Treibgut betrachtete, das der Strom mit sich trug. Es war bloß ernüchternd, wie banal das meiste davon war.
»Sieh einer an«, sagte der Soldat nicht unfreundlich. »Unser Klugscheißer! Möchten Sie ein Würstchen, Klugscheißer?« Er lachte.
»Flatte schon eins«, sagte Flenry lächelnd. Und dann sprach Biber aus ihm, wie das manchmal so war. »Zisch ab, Scherge.«
Dem Soldaten blieb das Lachen im Hals stecken. »Warten wir mal ab, ob Sie in zwölf Stunden auch noch so die Schnauze aufreißen«, sagte er. Das Bild, das vorbeitrieb, getragen von dem Strom zwischen den Ohren des Mannes, zeigte einen mit Leichen beladenen Laster, weiße Gliedmaßen wirr durcheinander. »Wächst der Ripley schon auf Ihnen, Klugscheißer?«
Henry dachte: der Byrus. Das meint er damit. In Wirklichkeit heißt es Byrus. Jonesy weiß das.
Henry antwortete nicht, und der Soldat ging weiter, mit dem behaglichen Gesichtsausdruck eines Mannes, der einen Punktsieg errungen hatte. Neugierig geworden, nahm Henry all seine Konzentration zusammen und stellte sich bildlich ein Gewehr vor - Jonesys Garand war es. Er dachte: Ich habe eine Waffe, und ich bringe dich damit um, sobald du mir den Rücken zukehrst, du Arschloch.
Der Soldat wirbelte herum, und der behagliche Blick war nun ebenso verschwunden wie zuvor das Grinsen und das Gelächter. Stattdessen schaute er nun zweifelnd und argwöhnisch. »Was haben Sie gesagt, Klugscheißer? Haben Sie was gesagt?«
Mit einem Lächeln erwiderte Henry: »Ich habe mich bloß gefragt, ob Sie auch was von dem Mädchen gehabt haben -Sie wissen schon: das Mädchen, das Frankie eingeritten hat. Hat er sie hinterher auch mal auf sie drauf gelassen?«
Für einen Moment war der Soldat baff und sah dabei vollkommen idiotisch aus. Dann stand ihm finsterster Zorn ins Gesicht geschrieben. Er hob sein Gewehr. Henry kam die Mündung wie ein Lächeln vor. Er zog den Reißverschluss seiner Jacke auf und hielt sie im immer dichter werdenden Schneefall auf. »Na los«, sagte er und lachte. »Mach schon, Rambo. Nur zu.«
Frankies Bruder hielt die Waffe noch für einen Moment auf Henry gerichtet, und dann spürte Henry den Zorn des Mannes verrauchen. Es war knapp gewesen - er hatte gesehen, wie der Soldat überlegt hatte, was er erzählen würde, irgendeine plausibel klingende Ausrede -, aber er hatte einen Moment zu lange gezögert, und da hatte sein Vorderhirn die rote Bestie schon wieder an die Kandare genommen. Es war immer das gleiche Schema. Die Richie Grenadeaus starben nie aus. Sie waren die Reißzähne des Leviathans.